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Zivilcourage

Annemarie Golser

Autorin: Annemarie Golser, Redaktion terzMagazin

Natürlich bilde ich mir etwas darauf ein, dass ich auch im vorgerückten Alter noch eine gute Sopranstimme habe.

Für die Königin der Nacht reicht das Volumen allerdings nicht mehr aus, aber immerhin noch für Händels Halleluja. Nach einer aufmunternden Aussage des Dirigenten, ich sei eine Stütze des Seniorenchors. Viele Jahre hatte ich nun das Glück, andere „Stützen“ neben mir zu haben. Neuzugänge sind willkommen, vor allem wenn sie so um die 65 Jahre herum sind und somit altersmässig zu unseren Jüngsten gehören. Ein Neuzugang, wohlgemerkt eine sympathische Person, setzte sich nun ausgerechnet neben mich. Was da aber nun an mein rechtes Ohr drang, stand gar nicht auf dem Notenblatt. Die gute Seele merkte wohl, dass ich etwas von ihr abrückte und fragte mich geradeheraus, ob sie falsch singe. Für mich war das eine heikle Situation. Aus Erfahrung in verschiedenen Chören weiss ich, wie empfindlich manche Menschen auf die Kritik an ihrem Gesangsvermögen reagieren, obschon Singen ja keine Charaktereigenschaft, sondern eine Gabe der Natur ist. Diplomatie schien mir angezeigt, und so sagte ich, dass sie nicht alle Töne genau treffe. Mit ihrer Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Sie bedankte sich für meine Offenheit, ist nun bereit, an ihrem „Handicap“ zu arbeiten und mit einer Musikerin zu üben. So bleiben wir einander ohne Ressentiments zugetan.
Ich hatte den Mut zur Wahrheit und sie die Grösse, diese Wahrheit zu ertragen.

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