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Von der Lust am Leiden

Annemarie Golser

Autorin: Annemarie Golser, Redaktion terzMagazin

Die Lust am Leiden wird vor allem den slawischen Völkern zugeschrieben. Der Hang zu Schwermut und Melancholie kommt stark in der oft tragischen und düsteren russischen Dichtung und Musik zum Ausdruck.

Als Grund für diese Lebenshaltung werden Katastrophen aus den Anfängen des Landes genannt: etwa der Mongolensturm, das Tatarenjoch oder der Petersburger Blutsonntag. Wir sind glücklicherweise von Schrecknissen in diesem Ausmass verschont geblieben.
Und doch gibt es auch bei uns Zeitgenossen, welche die Lust am Leiden genüsslich zelebrieren. Für dieses Phänomen, sich zu sehr mit dem eigenen Körper zu befassen, gibt es einen Namen: Hypochondrie. Seit dem Theaterstück von Molière vom eingebildeten Kranken, sei das Wort negativ behaftet. So spricht die Fachwelt lieber von der „übertriebenen Selbstbeobachtung“.
Die Geschichte hat für meine Nachbarin K. ganze Heerscharen von berühmten „Vorbildern“ bereit: etwa Friedrich der Grosse, Franz Grillparzer, Thomas Mann. Wenn es sich nicht vermeiden lässt, Frau K. zu begegnen, wird man mit bekannten und neuen Krankheiten des 21. Jahrhunderts konfrontiert. Kopfschmerzen deuten bei ihr garantiert auf einen Hirntumor hin, das unangenehme Ziehen im Bein könnte auf eine Thrombose hinweisen. Für unumgängliche Eingriffe sucht sie die besten Spezialisten aus und hat trotzdem immer das Pech, dass irgendetwas schiefgeht. Mal wird ein Blutgefäss getroffen, dann wieder ein Nerv eingeklemmt. In Notfallstationen ist sie Stammgast, aber ein günstiges Resultat nach der Untersuchung befriedigt sie selten.
Die Fülle von medizinischen Informationen in den Medien schafft ein Halbwissen und dürfte die Krankheitsangst im Volk noch verstärken. Ich hoffe auf eine Ärzteschaft, die ihre Pappenheimer durchschaut. Die mithilft, unnötige und teure Untersuchungen und Eingriffe zu vermeiden, die eigentlich nur bei einem konkreten Verdacht eingesetzt werden dürften. Im Laufe des Lebens kommt es zu körperlichen Veränderungen. Sie müssen die Lebensqualität aber nicht unbedingt beeinträchtigen.
Um das verpönte Wort doch noch zu gebrauchen, finde ich Hypochondrie unfair jenen Menschen gegenüber, die mit echten Leiden kämpfen müssen.

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