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Unkonventionell

Autorin: Annemarie Golser, Redaktion terzMagazin

Annemarie Golser

Zu diesem Begriff gibt es bei Google seitenlange Synonyme: Extraordinär, einzigartig, fabelhaft, herausragend, sensationell, unbekümmert usw.

Gluthitze. In die Stadt geht nur, wer unbedingt muss. Ich zum Beispiel. Zahnarzttermin.
Die Lauben und Gassen Berns sind bevölkert von Touristen. Eine Gruppe Japanerinnen fällt auf. Allesamt sind sie beschirmt. Gute Idee, denke ich. Ein Knirps gehört ja immer zur Standartausrüstung in den Tiefen der Handtasche. Auf dem Heimweg in unserem Dorf  beschirme ich mich auch. Zwei älteren Frauen  fallen fast die Augen aus dem Kopf. Ein kleines Mädchen flüstert seinem Vater zu: «Papi lueg, die Frou spinnt, es rägnet doch gar nid». Ich kann dem Kind ja nicht auf die Schnelle von den Damen erzählen, für die in früheren Jahrhunderten der Sonnenschirm ein beliebtes Accessoire war.  Zu meinem Fall passt wohl das Synonym «unbekümmert».

Unsere Gemeinde mit dem Slogan «Gemeinde mit Aussicht» steht zwar nur am Anfang des Emmentals, aber vieles ist noch so, wie zu den Zeiten von Jeremias Gotthelf.   Geistreich und voller Witz äussert sich der Referent an der Bundesfeier zum Thema Unkonventionell. Vor dreissig Jahren hat er es als Erster gewagt, hier in einer WG und in der Folge immer wieder in Abbruchobjekten zu leben. Gegenwärtig in einem Häuschen, das bald dem neuen Bahnhof weichen muss. Seinen Schilderungen kann ich eigenes Erleben hinzufügen.  Für die Mitgliedschaft im Frauenchor war die Tracht Bedingung. Also habe  ich mich dazu durchgerungen,  dieses zwar schmucke, aber unbequeme Kleidungsstück zu tragen. Ich mache es nie ohne einen ganz kleinen Hauch von Lippenrouge. Offenbar war das Rot nicht dezent genug. Eine Sängerkollegin wies mich sehr bald darauf hin, dass Schminken und Tracht nicht zusammengehen. Einem Paar wurde vor Jahren keine Wohnung vermietet, weil die Frau Französin war.  Eine  Nachbarin hätte es nie gewagt, als Frau allein in ein Café  zu sitzen, geschweige denn in ein Restaurant.  Und und und…. Am Schluss der Bundesfeier herrscht allgemeines Wohlwollen.  Der Referent – er nennt sich selber Paradiesvogel –  lobt die Toleranz, die ihm von allen Seiten entgegenkomme. Ich liebe Ironie!

Die vielen jungen Neuzuzüger erwirken vielleicht, dass der Gemeinde-Slogan einst umgeändert wird in „Gemeinde mit Weitsicht“ oder sogar „mit Nachsicht“.
Ein Umdenken hat offenbar bereits stattgefunden. Die Kirchgemeinde verschickt an die ältesten Bewohner Geburtstagskarten mit der Fotografie des Gemeinschaftsgrabes.
Und das ist doch absolut unkonventionell.

Annemarie Golser

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