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Über das Leben hinaus – sich dem Jenseits näher fühlen

Helmut Bachmaier und Bernd Seeberger (Hrsg.), Religiosität im Alter, Göttingen 2022, 294 S., € 24.—, (CHF 37.90)

© Linda Rosa Saal

Wer in einer christlichen Kirche an einer heiligen Messe, einem evangelischen Gottesdienst oder einer orthodoxen Liturgie teilnimmt, der wird stets die Erfahrung machen, dass das Durchschnittsalter der Kirchgängerinnen und Kirchgänger weitaus höher liegt als bei der Gesamtbevölkerung – sofern nicht gerade Heiligabend oder Ostern ist und es sich auch nicht um ein Treffen von Firmlingen oder Konfirmanden und ihren Eltern zu einer Pflichtveranstaltung handelt. Sind die Älteren stärker an religiösen Themen interessiert als die Jungen, fühlen sie sich dem Jenseits näher als Jugendliche oder junge Erwachsene?

Helmut Bachmaier und Bernd Seeberger versammeln Positionen aus Forschung und Praxis wie Philosophie, Theologie, Soziologie und Ethik. Die Autorinnen und Autoren skizzieren Altersbilder aus z. B. christlicher, jüdischer und islamischer Perspektive, die kulturelle Unterschiede und die jeweiligen gerontologischen Aspekte dokumentieren. Sie sind ausgewiesene Fachautorinnen und -autoren, die bereits zuvor bedeutende Beiträge zur Debatte der Gegenwart über Alter und Religion geliefert haben. Im Buch beleuchten sie auch Themen wie spirituelle Bedürfnisse von Demenzkranken, das aktuelle Gemeindeleben und das Altern im Gefängnis. Darüber hinaus werden die Rolle der Neurowissenschaften und das Verhältnis von Wissenschaft und Glauben (bei Darwin, Einstein u. a.) diskutiert, sodass ein umfassendes Panorama an Zusammenhängen zwischen Religiosität und Alter entsteht.

In der Einleitung geben die Herausgeber auf 9 Seiten einen Überblick über die 16 Beiträge der Textsammlung und zugleich eine Handreichung, wie sie zu lesen seien. Prof. Dr. Helmut Bachmaier und Prof. Dr. Bernd Seeberger erläutern die verschiedenen Altersphasen – autonom, fragil und kurativ -, die nicht zufällig mit denjenigen zusammenfallen, die auch in der Neuen Alterskultur der terzStiftung bedeutsam sind. Bachmaiers Motto «Selbständigkeitsförderung durch Prävention und Bildung» stimmt auch deswegen mit den Zielen der terzStiftung überein, weil er jahrelang mit dem Präsidenten der terzStiftung, René Künzli, zusammengearbeitet hat. Religiosität, so eine Leitthese Bachmaiers, kommt im Alter in verschiedenen Formen vor, jeweils auch entsprechend einer bestimmten Altersphase.

Dabei verstehen die Herausgeber unter «Religiosität» eine «Einstellung und Praxis, abgeleitet aus religiösen Glaubenssätzen, mit oder ohne Bezugnahme auf eine Institution.» Religiosität bezieht sich demnach auf ein «Sinndeutungssystem», eine theologische Lehre, meint aber insbesondere deren Umsetzung und Anwendung durch einen bestimmten religiösen Menschen. Im Beitrag des emeritierten Soziologieprofessors Peter Gross handelt es sich bei jener theologischen Lehre um das Christentum – nicht irgendwie unbestimmt, sondern genau um die Lehre von der Erlösung aller durch den Gottessohn, der die Schuld (Erbsünde) und die Verfehlungen der Menschen auf sich nimmt und mit dem Kreuzestod sühnt. Durch Christus, der wiederauferstanden ist und die Gründung der Kirche angewiesen hat. Peter Gross geht davon aus, dass die Europäer sich längere Zeit die eigene Erlösung selbst auferlegen wollten und nun wieder auf die Fundamente und Inhalte des Christentums besinnen.

Die darauffolgenden philosophischen Texte beziehen sich eher auf den Kern religiöser Traditionen, nicht auf eine spezifische Religion oder Konfession. Bei der Endlichkeit des eigenen Lebens und der Unverfügbarkeit der Lebensumstände setzt jede Religion an, meint der kurz nach der Veröffentlichung des Buchs verstorbene Hochschullehrer für praktische Philosophie Prof. Dr. Thomas Rentsch. Wenn wir nicht ignorieren wollen, dass es staunenswert ist, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, dann können wir in den Formen einer tradierten Religion der Freude Ausdruck geben, dass wir leben und dass wir handeln können – wir können das Glück der Schöpfung preisen.

Seit mehr als 15 Jahren ist es laut WHO Stand der Forschung, dass «spiritual care» als Teil der medizinischen Versorgung bei schwerkranken und sterbenden Patientinnen und Patienten angesehen werden sollte. Die Lebensqualität der terminal Kranken kann offenbar verbessert werden, wenn Spiritualität und Religiosität in die Gesundheitsversorgung einbezogen werden. Seit 2018 liegen die «Leitlinien zur interpersonellen Praxis» für spiritual care in palliative care vor. Christian Müller Hergl befasst sich in seinem ersten Beitrag für die vorliegende Anthologie mit den spirituellen Bedürfnissen von Menschen mit Demenz. Diese Erkrankung sieht er als Grenzsituation an, weil Demenz die Identität einer Person bedroht. Mit einer transzendenten Kraft verbunden und von ihr gehalten zu sein, bleibt ein starkes Bedürfnis gerade angesichts der Bedrohung des Kerns der eigenen Person. «Mit zunehmendem Alter scheint sich eine Veränderung der Bedeutsamkeit von Themen, die mit dem Selbst, den sozialen Beziehungen und ‘dem Kosmischen’ verbunden sind, anzubahnen und sich in der vermehrten Hinwendung zum Religiösen zu konkretisieren» schreibt Müller Hergl. In dieser Aussage kristallisiert sich das Thema des gesamten Buchs.

Wer mit (hoch-)betagten Menschen beruflichen Umgang hat, sollte sich diese Kernaussage der Aufsatzsammlung vor Augen halten und das Buch lesen, um seine Klientel besser zu verstehen.

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Hanni Wismer
16. Februar 2023 20:45

Danke für den interessanten Beitrag! Ich bin ebenfalls davon überzeugt, dass die Lebensqualität der terminal Kranken verbessert wird, wenn Spiritualität und Religiosität in die Gesundheitsversorgung einbezogen werden.