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Spiegel

Autorin: Annemarie Golser, Redaktion terzMagazin

Annemarie Golser

Die Coiffeuse schmunzelt über die Reaktionen ihrer Kundinnen. Notgedrungen sitzen diese doch längere Zeit vor ihrem eigenen Konterfei. Kaum eine der Damen ist zufrieden mit dem, was sie sieht und keine fühlt sich als «die Schönste im ganzen Lande».

Die Menschen haben das Phänomen des Spiegelbildes in einer ruhenden Wasserfläche schon zu Urzeiten entdeckt. In allen Kulturen, in den Religionen, der Wissenschaft, der Literatur und der Kunst, spielt der Spiegel eine grosse Rolle. Er beflügelt auch die Legenden und nährt den Aberglauben. Wohl um die Laune der eintretenden Gäste nicht zu verderben, soll er nicht im Eingangsbereich hängen und auch im Schlafzimmer ist er als Schlafstörer unerwünscht. Als Sinnbild der Eitelkeit und der Hoffart wurde er zum Beispiel in den Klöstern verboten. Ist wohl die Hassliebe zum Spiegel vor allem eine weibliche Eigenschaft? Eine Kolumnistin macht traurige Erfahrungen in den Umkleidekabinen der Modehäuser. «Schrecklich wenn ich meinen Körper im Spiegel sehe, getaucht in das grässlichste, unschmeichelhafteste Licht seit der Erfindung der Glühbirne…». Der Spiegel bleibt ein zweideutiges Symbol. Einesteils steht er für Selbsterkenntnis und Wahrheit, sein Effekt kann aber auch Ängste auslösen. Die seinerzeit zur Belustigung gedachten Zerrbilder im Spiegelsaal in Luzern, erschreckten mich als Kind und tagelang fühlte ich mich von Doppelgängern verfolgt.
«Dass der Mensch, der doch die Wahrheit so flieht, den Spiegel erfunden hat, ist die grösste historische Merkwürdigkeit.» Können wir dem Dramatiker Friedrich Hebbel auch im 21. Jahrhundert zustimmen?

Annemarie Golser

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