22 Jan Singe, wem Gesang gegeben

Autorin: Annemarie Golser, terzExpertin

Der Gesang ist die älteste und ursprünglichste musikalische Ausdrucksform des Menschen.

Annemarie Golser

„D’Meischtere singt.“ Lehrling und Geselle setzten sich jeweils in der Mittagspause auf die Bank vor dem offenen Küchenfenster und lauschten der hellen, klaren Stimme.
Die Meistersfrau, meine Grossmutter, trug stets eine kleine Melodie auf den Lippen.
Es war ihre Art, sich trotz der enormen Arbeitsbelastung ein ureigenes Paradies zu schaffen. Sie hat ihre Sangesfreudigkeit an ihre Nachkommen weitergegeben.
Früher war unsere Welt voller Lieder, die sich für alle Lebenslagen eigneten. Die Frauen profitierten von der grossartigen Akustik in der Waschküche, die Kinder vergnügten sich bei Singspielen. Von der Baustelle erschallten mit viel amore und sole die Canzoni eines südländischen Tenors. Man sang beim gemeinsamen Abwasch, auf der Wanderung, beim Familientreffen.
Und heute! Lehrkräfte stellen fest, dass die Knirpse beim Schuleintritt zwar die Schlager der Hitparade, aber keine Kinderlieder mehr kennen. Beim Konzert am Schulfest übertönt die unvermeidliche Begleitmusik mit dröhnenden Bässen die Singstimmen der Schüler. Was die „Music-Sternchen“ zum Teil ins Mikrophon schreien, klingt für unsere älteren Ohren eher wie „organisierter Lärm“.
Eine Chorgemeinschaft bietet Geselligkeit und gesundheitliche Vorzüge. Die Erkenntnisse sind nicht neu, dass Singen anregend wirkt auf Kreislauf und Durchblutung, das Immunsystem stärkt, die Stimmung hebt und hilft, Hemmungen abzubauen. Längst gibt es auch Seniorenchöre mit den beliebten Nachmittagsproben. Es stehen nicht mehr belastende anspruchsvolle Konzerte auf dem Programm, aber für „kleinere“ Auftritte wird durchaus ernsthaft und konzentriert geübt. Diese Chöre fühlen sich nicht nur dem traditionellen Liedgut verpflichtet, sie wagen sich auch mit Begeisterung an Neues.
Wenn ich als Chormitglied von einer Probe heimkomme, habe ich immer Mühe, nicht zu hüpfen und zu tanzen, und irgendein Lied begleitet mich noch für Stunden.