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Sich aussprechen dürfen

Hör mir zu – Tagebuch-Notizen einer Seniorin: Wenn das Tagebuch zur Freundin wird…

Autorin: Heidi Eggerschwiler | Foto: iStockPhoto

Sich aussprechen dürfen

Sich aussprechen dürfen

„Glücklich, wer sich einmal aussprechen darf, ohne Unterbrechung!“ Ja genau, liebe Freundin, da gehe ich mit diesem Ernst Hauschka einig, dessen Worte auf dem heutigen Kalenderspruch mich gleich am frühen Morgen pudelmunter machten. Du meinst, dass ich mich doch an dein Angebot erinnern möge, mich jederzeit an dich wenden zu können? Aber weisst du denn überhaupt was deine Aussage bedeutet, „ich bin immer für dich da, wenn du mich brauchst“? Hand aufs Herz, ist dir die Tragweite solch‘ grosser Worte denn überhaupt bewusst? Habe ich dich nicht gerade am letzten Sonntag versucht bei selbigem Wort zu nehmen? Und? Wo warst du, vielmehr warst du nicht gerade in allerhöchster Eile mit dem Schlüssel in der Hand auf dem Weg zur Garage und versprachst mir lachend, dich am Abend bei mir zu melden? Und, hast du? Nein, hast du nicht! Du hattest deine Gründe, da bin ich überzeugt und unser Gespräch fand dann am anderen Morgen statt, indes, es war nicht mehr dasselbe!

Und eben darum, liebe Freundin, und weil sich solches in steter Regelmässigkeit wiederholt, versuche ich ab sofort, dich auf anderem Weg zu erreichen; ich schreibe dir! Einverstanden? Und wer weiss, vielleicht schreibst du ja zurück oder noch besser, kommst gleich selber mit dem Angebot „ich habe Zeit“ vorbei.

Wie ich denn besagten Sonntag verbracht hätte, fragst du? Nun ja, ich telefonierte mich sozusagen fürs erste durch meine Bekanntenliste. Einige waren bereits ebenfalls auf dem Sprung zu einem Date, wie das sich heute so schön nennt, andere gar nicht da und die freundlichen Aufforderungen der verschiedenen Telefonbeantworter, sein Anliegen nach dem Piepston und so weiter brachten mich leider auch nicht auf eigene Ideen. Für einen Kirchgang war es mittlerweile zu spät, das Wetter lockte ebenfalls nicht zu einem sonnigen Spaziergang und was immer ich mir an guten Vorschlägen einzureden versuchte, verpuffte in einem missmutigen Neindanke. Statt mit dir, sprach ich zu mir selbst und meinte lakonisch „es ist niemand da für dich, also brauchst du gerade jetzt und heute auch niemanden“! Mit diesem Motto kam ich dann ganz gut über die Runden, zumindest für jenen Sonntag!

Aber weisst du, liebe Vertraute, manchmal, ja eben manchmal, würden sich auch viele deiner und meiner Mitmenschen glücklich schätzen, sich einmal aussprechen zu dürfen und eben, ohne unterbrochen zu werden. Ohne sich bereits nach den ersten Sätzen die Erlebnisse des Gesprächspartners anhören zu müssen. Denke doch nur an all das, was die meisten von uns Alten früher oder später am eigenen Leib erfahren, diese kleinen und vielleicht sogar grösseren Bresten. Ein abendfüllendes Thema, nicht wahr — vorallem die Geschichte des anderen. Und erst die abenteuerlichen Schilderungen, die meist mit dem Hinweis beginnen, dass man von einer Bekannten gehört hätte, die es wiederum auch von einer Nachbarin zugesteckt erhielt. Umwerfend und natürlich äusserst spannend, denn letzteres hat es ja zu sein. Ist es aber nicht eher so, dass man in solchen Situationen das Gefühl nicht los wird, entweder im völlig falschen Film zu sein oder aber darob seine eigenen Anliegen bereits vergessen hat? Im Idealfall brächten die zumeist horrorähnlichen Schicksale anderer eigene Kümmernisse zum schrumpfen oder bestenfalls gleich zum endgültigen Verschwinden.

Davon, liebe Freundin, dass das Zuhören vielleicht aber auch etwas mit Respekt dem anderen gegenüber zu tun haben könnte, davon wollen wir heute nicht reden. Denn, würdest du dies überhaupt hören wollen ohne mich sogleich zu unterbrechen und vom Gegenteil zu überzeugen versuchen? Wo wären in einem solchen Fall deine „offenen Ohren“, auf die ich zwischenzeitlich immer mal wieder hoffte? Wo wäre dein Verständnis dafür, dass ich auf Ratschläge, Lösungsangebote und schon gar auf Moralpredigten und Erfahrungsberichte weder erpicht noch akzeptanzwillig bin? Und was nutzten mir all jene Geschichten von Mitmenschen, die ähnliches erlebt, überwunden und nun in Frieden mit Gott, sich und der Welt zu leben wüssten. Eben! Wie klein, unwissend und undankbar müsste ich mir vorkommen. Und wenn mir mein eigener abgehackter Finger noch so weh tut, so gibt und gab es schon Schlimmeres, ich weiss, unendlich viel Schrecklicheres und jammern werde ich deshalb nicht mehr in deine Ohren, sondern was ich als „angehört“ mir wünschte, jemand anderem, einem stummen Zuhörer, meinem Tagebuch, anvertrauen! Und wir zwei reden dann eben weiter über’s Wetter, die Taten unserer Kinder und Enkel und können die Welt wie sie heute ist nicht verstehen, wollen es zumeist auch gar nicht mehr. Hauptsache: wir zwei, wir verstehen uns! Wir sind ja Freundinnen, füreinander da und hören uns zu! Oder?

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