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Rituale sind Stützen

Autorin: Annemarie Golser, Redaktion terzMagazin

Annemarie Golser

Achtung er ist da! Ein Raunen geht durch die Schalterhalle der Bank. Amüsiert, aber irgendwie auch gerührt, verfolgt das Personal das sich alljährlich anfangs Januar wiederholende Ritual.

Ein alter Bauer aus einem abgelegenen Weiler im Emmental kommt zum Zinsnachtrag. Ohne sichtbare Gefühlsregung stapelt der erfahrene Kassier verschiedene Noten und Münzen vor sich auf. Bedächtig zählt der seltsame Kunde nach. Er ist mit dem Ergebnis zufrieden und meint zum Abschied: „Bewahren sie es gut auf bis zum nächsten Jahr“. Er hat für sein Erspartes hart gearbeitet und nun will er sein Geld immer wieder sehen und berühren.

„Vor Zeiten war ein König und eine Königin“. So und nicht anders beginnt das Märchen vom Dornröschen im dicken Buch der Brüder Grimm. Matthias und Marion passten auf, dass nicht ein Wort in der Erzählung abgeändert wurde. Auch der Versuch, für einmal auf eine andere Einschlafhilfe auszuweichen, scheiterte am Protest der Kinder. Die Tage mit den Enkeln waren geprägt von immer gleichen Ritualen: Der Gang zum „Munggestei“, einem imposanten Findling, das Läuten zum Frühstück am Glockenstrang, das Füttern der Karpfen im Schulhaus-Teich. Auch als Erwachsene haben sie nichts davon vergessen.
Erst noch habe ich meine betagten Nachbarinnen für ihre Gewohnheiten belächelt. Ich kann die Uhren nach ihnen richten. Die eine schliesst im Sommer und im Winter punktgenau um neunzehn Uhr die Fensterläden. Die andere geht jeden Morgen früh genau um acht Uhr zum Einkaufen. Heute weiss ich aus Erfahrung, dass ein strukturierter Tagesrhythmus im Alter Sicherheit und Ruhe schafft und das Gedächtnis stützen kann. Für Spontanes muss es trotzdem Platz haben. Auch der Waschtag kann einmal verschoben werden, wenn ein Überraschungsgast auftaucht.

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