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Reserviert

Autorin: Annemarie Golser, terzExpertin

Der Wunsch, sich einen privilegierten Platz zum Essen oder einen Aussichtspunkt für die eigene Gruppe zu sichern, ist stark im Menschen verankert. Dabei hätte es viele Vorzüge, unterschiedliche Charaktere und Unbekannte zusammen zu bringen.

Annemarie Golser

Annemarie Golser

Wer hat das nicht auch schon erlebt! Wir betreten ein Lokal in der frohen Erwartung eines netten Abends in gemütlicher Ambiance. Es erscheint uns als besonderer Glücksfall, in guter Lage noch ein leeres Tischchen zu ergattern. Noch bevor wir das Schild „réservé“ erblicken, eilt der Chef des Hauses mit bedauernder Gebärde auf uns zu. Aus der Traum vom traulichen Zusammensein in gediegener Umgebung.
Bestenfalls wird für uns ein Zweiertisch freigemacht, der sonst als Abstellfläche für den Zahnstocherhalter und den Gewürzständer dient. Hier sitzen wir nun im Durchzug und dem Servierpersonal im Weg.  Natürlich hätten wir auch reservieren sollen. Die Klugen bauen vor, Spontanes hat keine Chance mehr.  Wie oft aber wird der reservierte Tisch  im Laufe des Abends gar nicht besetzt. Er ist da, falls noch Prominente oder Stammgäste des renommierten Hauses  eintreffen sollten.
Der Wunsch, sich einen privilegierten Platz zu sichern, ist stark im Menschen verankert.
Wie war es doch einstmals beim Familienspaziergang! Wir Kinder stürmten voran, um das lockende Bänkli beim Aussichtspunkt zu erobern. Am Strand oder in der „Badi“ werden Reservationstrupps vorgeschickt, die grosszügig am Schatten Tücher ausbreiten. Bei der Vereinsfeier oder auch beim Seniorenessen im Kirchgemeindehaus verteilen die zuerst Eingetroffenen für die später erwarteten Busenfreundinnen Mäntel und Schals auf die Stühle. Neuzugänge stehen dann etwa ratlos herum und fühlen sich nicht willkommen. Im Gesangschor wird die Reservation für den gemütlichen Höck  nach Stimmlage und Jahrgängen vorgenommen. Nun sitzen also bald einmal wie seit Jahren die gleichen Grüppchen  beisammen.
Die Stillen da, die Lustigen dort. Kaum jemand sieht ein, wie bereichernd und kommunikationsfördernd ein Mischen wäre. Eigentlich müssten doch vielmehr Stühle frei sein für diejenigen, die weder prominent, noch flink, noch frech genug sind, um sich einen guten Platz zu erkämpfen.

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