12 Aug Perfektionismus ist nicht alles…

Von Annemarie Golser, terzExpertin

Gelegentlich kann es hilfreich sein, die Ordnungsliebe nicht auf die Spitze zu treiben, denn auch aus der eigenen Unvollkommenheit lassen sich Vorteile ziehen.

Annemarie Golser

Nachbars sind perfekt. Im Haus haben Spinnen so wenig eine Chance ihr Netz zu bauen, wie im Garten das Unkraut, sich auszubreiten. Bei der Altpapiersammlung liegen Zeitungen und Zeitschriften sorgfältig millimetergenau ausgerichtet und straff gebündelt zur Abfuhr bereit. Nicht so bei mir. Da wird halt manchmal in der Eile zum Schnüren verwendet, was gerade zur Hand ist: Geschenkbändeli, Bast und ähnlich untaugliches Material. Aber meine Geschichte beginnt eigentlich an dem Tag, an dem ich mit Schrecken den Verlust meiner Agenda mit vielen wichtigen Eintragungen entdecke. Zu allem Übel pflege ich auch alle meine Ausweise darin mitzutragen. Bei der systematischen Durchsuchung des ganzen Hauses inklusive Keller, kommt zwar längst Verschollenes zum Vorschein, nicht aber das besagte unentbehrliche Objekt. Ohne Erfolg dehne ich die Suche auf die weitere Umgebung aus: Geschäfte, Vereinslokal, Fundbüro.
Da kündet eines Tages Kinderlärm und Wagenrollen die Papiersammlung an. Die Schüler vom Abholdienst sind ausgerüstet mit Zwei- und Vierrädrigem. Der Papierturm vor dem Schulhaus nimmt bald einmal rekordverdächtige Dimensionen an. Es läutet an der Haustüre. Drei Buben stehen da. Einer streckt mir ein kleines schwarzes Büchlein entgegen. Ich kann mein Glück kaum fassen. Die Agenda sei aus einem unsorgfältig gebündelten Stapel herausgefallen. Hocherfreut nehmen die Drei den Finderlohn entgegen. Ich bin dem Schicksal, dem Zufall und auch ein ganz klein wenig meiner „Liederlichkeit“ dankbar. Bei Nachbars wäre die Agenda auf Nimmerwiedersehen verschwunden gewesen. Oder muss ich eingestehen, dass bei Nachbars ein so wichtiger Gegenstand gar nie zwischen die Zeitungen geraten wäre?