fbpx

Mutters letzte Liebe

Autorin: Annemarie Golser, Redaktion terzMagazin

Bildquelle: Pixabay

Nach glücklichen Ehejahren wurde Mutter früh Witwe. Ihrem Temperament entsprechend, trauerte sie eine Zeitlang vehement. Sie verlangte hartnäckig für Vater weiterhin ein Gedeck und beschäftigte sich vorwiegend damit, die Kondolenzkarten durchzusehen. Bald aber trug sie wieder hübsche Kleider und entschloss sich zu einem Ortswechsel. In der folgenden Zeit kümmerte sie sich vorwiegend um uns Kinder und sorgte für den Lebensunterhalt.

Schon hoch in den Jahren passierte, was Theodor Storm in seinem Gedicht so berührend formulierte: „Noch einmal fällt in meinen Schoss die rote Rose Leidenschaft…“ Mutter verliebte sich. Zunächst erschrak sie über die Intensität der Gefühle. Solches bleibt doch in unserer Gesellschaft der Jugend vorbehalten. Bald aber liess sie es zu als ein unerwartetes Geschenk des Schicksals und vor allem deshalb, weil der Umschwärmte, obschon viel jünger als sie, ihrer Liebe würdig schien. Er nahm Rücksicht darauf, dass diese Zuneigung keine volle Erfüllung bringen würde. Er schätzte ihre menschlichen Qualitäten, ihre Begeisterungsfähigkeit, ihren Humor. Sie berührte ihn in der Seele, und das Alter war kein Thema. Mutter aber blühte auf. Zuerst hatte sie Hemmungen, sich ihrem Umfeld zu öffnen. Sichtbar wurde ihr Zustand trotzdem. Auch alte Augen können noch strahlen. Sie wurde zwar ungehalten über die äusseren Zeichen der Jahre. Ihre Morgentoilette wurde mit etwas Gymnastik ausgedehnt, ein dezentes Lippenrot und helle Kleidung mussten sein. Ihr neues Motto hiess fortan:

Ich will nicht nur von den Erinnerungen leben, ich will Erinnerungen schaffen.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei

0 Kommentare
Inline Feedbacks
View all comments