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Mit Ängsten leben

Autorin: Annemarie Golser, terzExpertin

Annemarie Golser

Annemarie Golser

„Ich verdanke dir, dass ich nicht gern in eine Gondel steige“. Dieser Vorwurf meiner Tochter trifft mich. Ungewollt habe ich meine Ängstlichkeit an sie weitergegeben. Dabei habe ich ein Leben lang an meinem mütterlichen Erbe schwer getragen. Mir blieb versagt, was für andere Kinder selbstverständlich war: Radfahren, Schwimmen, Skifahren, Eislaufen. Selbst auf ein simples Mäuerchen durfte ich nicht klettern. Tat ich etwas Verbotenes, so sah ich immer den mütterlichen Warnfinger vor mir, wurde verkrampft und fiel vom Rad oder purzelte von der Mauer. Stets war ich hingerissen vom Wunsch, es den Spielgefährten gleichzutun und der Furcht vor den Konsequenzen. Meine anerzogenen Ängste begleiteten mich ins Erwachsenenleben. Ich fürchtete mich vor Gewittern, vor Hunden, vor engen Räumen, vor riesigen Skulpturen. Ich schämte mich meiner Unsportlichkeit. Es half wenig, dass mir immer wieder beteuert wurde, Sportlichkeit sei eine Frage der Lebenseinstellung und nicht der aktiven Ausübung. Ich hätte doch wahrhaftig Zeugnis für persönliche „Mutproben“ abgelegt.
Mit dem Älterwerden hat sich meine Beziehung zu den Ängsten verändert. Ich habe mich mit ihnen arrangiert. Sie führen ja auch zu mehr Sensibilität. Sie liessen mich sehend werden für die verborgenen Schönheiten der Natur, und sie lehrten mich den behutsamen Umgang mit der Kreatur. Heute darf ich dazu stehen, dass ich lieber Treppen steige, als den Lift zu benützen. Ich falle nicht mehr aus dem Rahmen, wenn ich mich im Thermalbad den Haltestangen entlang im Wasser tummle. Im Winter geniesse ich Sonne und Schnee ohne schlechtes Gewissen als Fussgängerin.
Und wenn ich noch im April beim letzten Schneegestöber die „Spikes“ an den Schuhen montiere, so lache ich über mich selber.

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