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Mehrgenerationenhäuser – Welche Chancen liegen in innovativen Wohnkonzepten für ältere Menschen?

Greta (81) fühlt sich oft einsam. Ihre 5-Zimmer Wohnung in einem Stadtteil von Zürich ist viel zu gross, seit ihr Mann verstorben ist. Viele ihrer Bekannten sind bereits in ein Altersheim gezogen oder ebenfalls verstorben. Auch in ihrem Quartier kennt sie niemanden. Ihr fehlen der Austausch und die Interaktion mit anderen Menschen – unentbehrliche Bausteine eines sinnerfüllten Lebens.

Wie Greta geht es laut dem Bundesamt für Statistik einem Drittel der über 75-Jährigen: Die massenhafte soziale Isolation im Alter ist ein zentrales Problem der Gegenwart.

Eine wichtige Rolle bei der Entwicklung von Lösungsansätzen spielt die Gestaltung des Lebensraums. Es gilt, innovative Wohnkonzepte zu entwickeln, um der Vereinsamung älterer Menschen entgegenzuwirken. Das terzMagazin fragt: Können Mehrgenerationenhäuser älteren Menschen wie Greta dabei helfen, Einsamkeit zu überwinden und sinnstiftend zu handeln?

Mehrgenerationenhaus im familiären Rahmen

„Ja, das können sie!“, sagt Eva Lingg, Dozentin für Architektur an der Fachhochschule St. Gallen, selbst Bewohnerin eines Mehrgenerationen-Hauses. Neun Personen aus drei Generationen, darunter Linggs Kinder und deren Grosseltern, leben in dem modernen Holzhaus, das im Jahr 2018 den Vorarlberger Holzbauhaus-Preis gewann. Jede Partei verfügt über einen eigenen Wohnraum, doch gibt es auch gemeinsam genutzte Flächen, wie den Garten oder die Garage. Für Lingg überwiegen die Vorteile des Konzeptes: Ressourcenbündelung, Kostenaufteilung, lebendige Nachbarschaft. Für Linggs Eltern ist das Mehrgenerationenhaus eine willkommene Alternative zur Alterswohnung. Sie können ihre Lebenserfahrung, Kompetenzen und Ressourcen sinnstiftend einsetzen und der nachfolgenden Generation dabei helfen, Familie und Beruf zu vereinbaren.

Mehrgenerationenhaus im grossen Rahmen

Anders gelebt wird die Idee des Mehrgenerationenhauses in der Giesserei in Oberwinterthur, der grössten Siedlung der „Genossenschaft für selbstverwaltetes Wohnen“. Hier leben etwa 240 Erwachsene und über 100 Kinder und Jugendliche in 140 Wohnungen gemeinsam unter einem Dach. Hinzu kommen ein Gewerbepark, in dem derzeit 14 Betriebe ansässig sind, eine Bibliothek, zwei Galerien, ein Musikzentrum, ein Veranstaltungssaal, mehrere Gemeinschaftsräume und Werkstätten sowie etliche Gästezimmer. Bei der Auswahl der Mieter wird darauf geachtet, eine Altersstruktur zu bewahren, die in etwa jener der gesamten Schweiz entspricht. Das Grundprinzip der Giesserei: Junge und alte Bewohner übernehmen gemeinsam um die Selbstverwaltung; sprich den Gebäudeunterhalt und die Reinigung, die Gartenpflege, die Administration und die Organisation von kulturellen und sozialen Anlässen. Ältere Menschen werden hier aktiv eingebunden und stellen eine unentbehrliche Säule der Gemeinschaft dar.

Öffentlicher und privater Raum müssen richtig austariert werden

Die grosse Herausforderung derartiger Wohnprojekte besteht darin, die richtige Balance aus Verbundenheit und Wahrung der Privatsphäre zu finden. Jede Generation hat eigene Bedürfnisse und dies muss – bis zu einem angemessenen Grad – von den anderen Generationen toleriert werden. Dies stellt hohe Anforderungen an alle Beteiligten. Eine hohe Flexibilität und ehrliche Kommunikation sind Voraussetzung für ein Funktionieren.

Mehr als nur eine „kostengünstige Kita“

Für ältere Menschen birgt das Konzept des Mehrgenerationenhauses eine Fülle an Chancen. Sie bleiben auch nach dem Berufsausstieg in eine Gemeinschaft integriert, in der sie ihre Stärken einbringen können. Sie bleiben im Gespräch mit Menschen verschiedenen Alters, müssen sich mit deren Perspektive auseinandersetzen und trainieren so ihre Fähigkeit zur Empathie. Sie helfen dabei, einen Lebensraum zu gestalten, der den nachfolgenden Generationen die Möglichkeit eines nachhaltigen Lebens eröffnet.

Mehrgenerationenhäuser und demographischer Wandel

Für Menschen wie Greta wären Mehrgenerationenhäuser ein Weg, die Einsamkeit zu überwinden und sich selbst wieder als wertvolles Mitglied einer Gemeinschaft zu erleben.

Und die Zeit, etwas zu ändern, drängt, denn der demographische Wandel erfordert mehr Investitionen in altersgerechtes Wohnen. Doch zunächst muss mehr darüber nachgedacht werden, was das Wort „altersgerecht“ eigentlich bedeutet. Es reicht nicht aus, alles auf die Karte „Barrierefreiheit“ zu setzen, denn Menschen vereinsamen auch in einer barrierefreien Wohnung.

Die Schweizer Gesellschaft der Gegenwart kann es sich nicht leisten, dass hunderttausende Menschen zu Hause vereinsamen – weder in menschlicher noch in wirtschaftlicher Hinsicht. Das Mehrgenerationenhaus als innovatives Wohnkonzept ist ein sehr vielversprechender Ansatzpunkt, älteren Menschen den Zugang zu einer Gemeinschaft zu sichern und ihnen eine Möglichkeit zu bieten, ihre Fähigkeiten und Kompetenzen einzubringen.

Fabian Kern

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