fbpx

Immer das Gleiche sagen – ohne je zu langweilen

Autor: Dr. Thomas Meyer, Redaktion terzMagazin

© Linda Rosa Saal

Demenzielle Vergesslichkeit bestimmt von Anfang an die Erzählung «Der vergessliche Riese» von David Wagner. Selbst, dass er wenige Tage zuvor auf der Beerdigung seiner zweiten Frau gewesen war, hat der Vater des Erzählers gleich auf den ersten Seiten nicht mehr im Gedächtnis. An die Hand seines Vaters erinnert sich der Erzähler als riesig – offensichtlich riesig nach den Massstäben eines Kindes. Diese Kindheitserinnerung ist ihm gegenwärtig. Die Korrektur durch den Augenschein jetzt, im mittleren Erwachsenenalter, nimmt der Erzähler nur deshalb wahr, weil der Vater auf viele Erinnerungen nicht mehr zurückgreifen kann.

Den Unterschied zwischen dem ganz gewöhnlichen Verdrängen nicht benötigter Informationen und demenzieller Vergesslichkeit handelt der Autor nicht etwa essayistisch ab, er stellt ihn erzählerisch vor Augen: Sobald ich Details zum Entstehungsjahr und zum Stab eines Kinofilms, den ich mir ansehen möchte, herausgefunden habe, merke ich mir diese Einzelheiten für eine begrenzte Zeit, benötige die Information später aber vielleicht nie mehr und habe sie deswegen auch nicht präsent. Wenn ich den Film wieder sehe, kann es sein, dass ich mich entweder erinnere oder dass ich neuerlich nachlesen muss – es wird mich nicht belasten. Dagegen nicht mehr zu wissen, wer von den nächsten Angehörigen bereits gestorben ist und wer noch lebt, das ist gar nicht normal und kann mich viele Tränen kosten.

Die Geschichte vom Austauschmotor im Golf, mit dem Vater und Sohn im Roman von Bonn nach Würzburg unterwegs sind, erfährt der Leser auf wenigen Seiten fünf Mal. Es ist quälend, dasselbe wieder und immer wieder lesen zu müssen. Viel schlimmer ist aber die dadurch vermittelte Vorstellung, selbst ein solches Gespräch führen zu müssen: Keine Information bleibt haften, der Gesprächspartner weiss nach wenigen Minuten nicht mehr, worüber kurze Zeit zuvor gesprochen wurde. Spannend ist allerdings mitzuverfolgen, mit welcher Gelassenheit und Geduld der beschriebene Sohn die (leitmotivischen) Wiederholungen, Reprisen und Variationen desselben Themas anhört und aufgreift. Sie sind «komponiert», nicht beliebig aneinandergereiht. Insofern ist es hier gerade nicht so, wie es im Buch steht: «Immer das Gleiche zu sagen ist auch eine Methode, den Tag, die Zeit, sein Leben herumzubringen…»

Sehr unterschiedliche Erfahrungen im Umgang mit Smartphone und Tablet finden sich im Buch: Zunächst ist der Vater noch in der Lage, Bestellungen online aufzugeben. Nach und nach wird der Kampf gegen die Tücken der modernen Elektronik zunehmend aussichtslos. Am Verhalten des Sohnes stellt David Wagner dar, wie sehr Smartphones unseren Alltag beeinflussen und wie sehr es auffällt, wenn jemand die Möglichkeiten dieses elektronischen Geräts nicht nutzt. Dabei ist es nur knapp 12 Jahre her, dass ein Mobiltelefon einfach ein Telefon war – und nicht zugleich eine Digitalkamera, ein Informationsmedium, ein Navigationsgerät und ein Spielzeug.

Auffallend ist der völlige Verzicht auf Klagen und Wehleidigkeit. Der demenziell Erkrankte, der in grossem Umfang selbst zu Wort kommt, wobei die Grenzen zwischen echtem Gedächtnisinhalt und frei Erfundenem bewusst verwischt werden, bemerkt immer wieder, dass ihm Erinnerungen fehlen. Statt darüber zu verzweifeln, zitiert er jedes Mal eine Verwandte, die seiner Familie attestierte, in der Jugend einigermassen intelligent zu sein, aber im Alter zu «verblöden». Der Sohn versucht dem Vater Anregungen zu geben, fährt mit ihm in Städte und Strassen, die für die Familie bedeutsam waren – in der Hoffnung, ein Anblick oder ein Geruch würden ein Erinnerungsbild heraufrufen. Manchmal gelingt das, aber er sieht eher das Komische darin, wenn der Vater nicht reagiert wie erhofft.

Ausgeblendet ist im Roman der Aspekt der finanziellen Überforderung der meisten Familien durch einen Pflegefall: Ja, eines seiner Autos muss verkauft werden, der Hausverkauf wird ohne Absprache mit dem Vater geplant. Aber auch nach Jahren der Betreuung durch polnische Pflegerinnen sind genügend Geldreserven vorhanden, um eine Wohnung in einem traumhaften Demenzheim am Rhein mit riesigem Garten zu bezahlen. Der gutbürgerliche Hintergrund tritt immer wieder zutage, die Art der Besitztümer und der Hobbies sprechen für sich. Einige Aspekte der Art, wie das Bürgertum die deutsche Geschichte in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts erlebt hat, beschreibt der Autor scheinbar beiläufig in den Gesprächen zwischen Sohn und Vater.

Ein sehr gut zu lesendes Buch über ein sehr ernstes und wichtiges Thema – das kein bisschen weinerlich verfasst ist.

David Wagner, Der vergessliche Riese, 272 Seiten, CHF 33.90, Hamburg 2019

Abonnieren
Benachrichtige mich bei

1 Kommentar
Inline Feedbacks
View all comments
Hanni Wismer
29. Februar 2020 14:57

Das Buch scheint mir sehr interessant zu sein, wir müssen Demenz thematisieren. Demenz ist ein Thema, und zwar ein wichtiges!
Freundliche Grüsse, Hanni Wismer