fbpx

Hausarzt alter Schule

Autorin: Annemarie Golser, Redaktion terzMagazin

Bildquelle: Pixabay

Lieber Herr Dr. D.  Alters halber haben sie ihre Praxis vor einigen Tagen aufgegeben. 35 Jahre lang waren wir ein Paar: Arzt und Patientin. Ungeachtet der heutigen Gepflogenheiten sind wir immer beim «Sie» geblieben. Ich war da noch geprägt vom Kniefall der Jugendjahre vor dem Intellekt. Lehrer, Arzt und Pfarrer waren in unserem Dorf noch Respektspersonen.

Coronabedingt war unser Abschied etwas nüchtern. Sie haben mich als kritische Patientin empfunden. Man hat mir schon an meiner letzten Arbeitsstelle vorgeworfen, dass ich alles hinterfrage. Das mag stimmen, vor allem wenn es mein Wohlbefinden betrifft. Sie waren mir etwas zu zögerlich. Sie haben immer wieder dem Selbstheilungssystem des Körpers vertraut, zu Geduld ermahnt, oder empfahlen gar altbewährte Hausmittelchen. Wenn sie ihre hochbetagte „Kundschaft“ an ihre Jahre und die damit verbundene Vergänglichkeit erinnerten, war das für mich etwas viel Fatalismus. Es bedarf doch ärztlicher Hilfe bis zum letzten Atemzug. Fachlich mögen deshalb einige Vorbehalte angebracht sein, menschlich waren sie grossartig.

Sie waren immer rund um die Uhr erreichbar – auch für Hausbesuche mitten in der Nacht. Wenn sie auf Anruf an der Türe klingelten, entstand eine positive Wirkung wie ein kleines Wunder. Wer kennt nicht schlaflose Nächte mit Ängsten und Beschwerden. Ich vermisse Sie und fühle mich nicht mehr geborgen.

Die neue Gemeinschaftspraxis im Dorfzentrum ist technisch auf dem höchsten Stand. Alles ist durchorganisiert. Die jungen Ärztinnen und Ärzte sind fachlich sicher gut ausgebildet. Allerdings stehen sie nur zu bestimmten Öffnungszeiten zur Verfügung. Für Notfälle wird eine Karte mit Telefonnummern von Notfallärzten und für eine medizinische Beratung ausgehändigt. Bezeichnend für die wenig erfreuliche Änderung weg vom legendären Hausarzt, ist auch der Hinweis auf der Terminkarte: Im Verhinderungsfalle 24 Stunden vorher absagen. Die Konsultation muss sonst in Rechnung gestellt werden.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei

2 Kommentare
Inline Feedbacks
View all comments
Ursula Küng
16. November 2021 15:56

Den guten „alten“ Hausarzt vermisse ich auch. Als damals mein Hausarzt seine Praxis altershalber aufgegeben hat, suchte ich 2 Jahre lang nach einer neuen ärztlichen Betreuung. Mein damaliger Hausarzt war ein begnadeter Diagnostiker und schickte mich nur zu einer Untersuchung ausser Haus, wenn das entsprechende medizinische Gerät nicht vorhanden war. Ich betrat jedesmal seine Praxis krank und nach der Konsultation war ich körperlich noch nicht gesund, aber im Kopf erleichtert und bereits auf gesund gestellt. Jetzt bin ich in einer neuen Gemeinschaftspraxis etwas heimisch geworden. Aber es wird nie mehr so werden, wie es einmal war. Ob man will oder nicht, man muss sich darauf einstellen. In der heutigen Zeit ist eine Arztpraxis ein Unternehmen, wie alle anderen Geschäfte auch.

Thomas Meyer
16. November 2021 16:54
Reply to  Ursula Küng

Vielen Dank für Ihre zustimmenden Bemerkungen. Freundliche Grüsse, Thomas Meyer für die Redaktion.