fbpx

Enkel und Grosseltern stehen sich näher als je zuvor

Interview: Dr. Thomas Meyer, Redaktion terzMagazin | Foto: zVg

Nur solche Lösungen für die Fragen der Zukunft, die für alle Generationen verträglich sind, möchte die terzStiftung voranbringen. Zwischen den vier Generationen der Schweizer Gesellschaft herrschen bislang trotz des Geredes über einen „Generationenkrieg“ gute Beziehungen. Das ergab auch das Gespräch mit der „Generationenforscherin“ Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello.

Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello

Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello

Frau Perrig, was meint der Begriff „Generation“ in der Wissenschaft?
Im alltäglichen Sprachgebrauch beobachten wir gegenwärtig eine Inflation von Generationenbegriffen. Allerdings handelt es sich hier meistens um „Generationenetiketten“: Golden Agers etwa oder Silver Agers. Solche Bezeichnungen haben mit dem Konzept von „Generation“ in der Wissenschaft wenig zu tun. Hier stehen eher der genealogische (Familie) oder der soziale Generationenbegriff (Kohorte) im Vordergrund.

Haben sich die Generationenbeziehungen in den jüngsten Jahrzehnten verändert?
Ja, notgedrungen, weil es heute in der Gesellschaft einen viel höheren Anteil Älterer gibt, weil wir uns in eine echte Vier-Generationen-Gesellschaft verwandelt haben. Die längere gemeinsame Lebenszeit hat zusammen mit der geringeren Geburtenrate sehr viele Auswirkungen.

Welche halten Sie für die wichtigsten Veränderungen?
Eine sehr positive Auswirkung ist die gelebte Grosselternschaft: Weil Enkel und Grosseltern durch die viel höhere Lebenserwartung heute sehr viel mehr gemeinsame Jahre verbringen können, stehen diese Generationen sich näher als je zuvor. Umgekehrt gibt es aber die Verpflichtung für die jüngeren Generationen, sich um die grössere Anzahl pflegebedürftiger Hochbetagter zu kümmern. Eine Aufgabe der Gesellschaft und des Staates ist es, die vorhandenen Ressourcen nicht mehr nur unter „Junge“ und „Alte“ zu verteilen, sondern unter Junge, Mittelaltrige, Ältere und Hochaltrige oder Betagte. Dabei muss man berücksichtigen, dass heute immer weniger Junge nachkommen: Diesen Gesellschafts-Aufbau beschreibt die moderne Soziologie mit dem „Bohnenstangen-Modell“ – das dünne Fundament des Generationen-Baus muss wie eine Bohnenranke gestützt werden, um nicht zu kippen. Es gibt also auch immer weniger Junge, die für immer mehr Alte aufkommen müssen. Ein weiterer offensichtlicher Unterschied zwischen früheren und heutigen Generationenbeziehungen hängt mit der enorm gewachsenen Mobilität bei uns zusammen: Die Familienmitglieder leben heute häufiger in grösserer Entfernung von einander. Es gibt eine familiale Nähe, einen Zusammenhalt und vielfältige Kontakte in den Familien – aus der Distanz.

Welche Ergebnisse des „Generationenberichts Schweiz“ halten Sie für die wichtigsten?
Am allerwichtigsten scheint mir, dass es den Generationenkrieg, von dem einige Medien berichtet haben, in den Schweizer Familien gar nicht gibt, weil hier die Solidarität zwischen den Generationen noch gut funktioniert. Dass solche informellen Leistungen wie etwa die Kinderbetreuung in der offiziellen Diskussion in der Schweizer Öffentlichkeit nicht erwähnt werden, hat die Verfasser des Generationenberichts sehr gestört. Tatsächlich haben sich die familialen Generationenbeziehungen in den vergangenen Jahrzehnten verbessert. Kinder halten es zu Hause länger aus, ziehen erst nach einer langen Ausbildungszeit in die eigene Wohnung. Das ist nicht nur eine Folge finanzieller Überlegungen, sondern es gefällt der Mehrzahl bei den Eltern. Auch die Beziehungen zu den Grosseltern sind besser als je, und auch das hängt nicht nur mit den „Batzen“ zusammen, die reichlich verteilt werden,sondern auch daran, dass sie mehr Zeit für die Enkel haben als je und als die Eltern selbst.

Welche Ergebnisse des Generationenberichts haben Sie am meisten überrascht?
Dass in Familien viel geleistet wird, dass es Zusammenhalt gibt, dass Transferleistungen stattfinden, hatte ich freilich gewusst. Das grosse Ausmass dieser Leistungen hat mich aber doch überrascht. Und nicht weniger überraschend war für mich, wie sehr gesellschaftliche Strukturen fehlen, wie wenig der Staat in der Lage ist, Betreuungs- und Pflegeaufgaben zu übernehmen – beispielsweise fehlen annähernd 50 000 Krippenplätze. Ein weiteres überraschendes Ergebnis: Es ist viel von „Gerontokratie“ die Rede, von einer Herrschaft der Alten. Die Befunde sind hier eindeutig: Die mittlere Generation hat in der Schweiz das Sagen. Dabei reicht diese „Mitte“ nach allgemeinem Verständnis heute vom 40. bis zum 60. Lebensjahr.

Treffen die Beobachtungen des Generationenberichts annähernd auch auf Ihre eigene Familie zu, oder erleben Sie das völlig anders?
Nein, auch die eigene Familie besteht aus vier Generationen, wobei der verwitwete, gesunde fast 90-jährige Urgrossvater von den Kleinsten vergöttert und von den jungen Erwachsenen für „cool“ gehalten wird. Seine altersweise Gelassenheit ist Vorbild für sie. Auch das entspricht einem Befund des Generationenberichts: Werthaltungen wie Friedfertigkeit und Verträglichkeit werden von Älteren und Jüngeren stärker geschätzt, von der mittleren Generation in geringerem Mass. Grundsätzlich unterscheiden sie sich zwischen Eltern und ihren Kindern stärker als bei den entfernteren Generationen.

Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello
Dr. Pasqualina Perrig-Chiello ist Professorin am Institut für Psychologie der Universität Bern. Leiterin verschiedener Forschungsprojekte zu den einzelnen Lebensaltern. Schwerpunkte ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit sind Entwicklungspsychologie der Lebensspanne, Generationenbeziehungen sowie Wohlbefinden und Gesundheit. Sie lebt in Basel, ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne. Zu ihren Publikationen gehört der «Generationenbericht Schweiz. Generationen – Strukturen und Beziehungen», Zürich 2008 (zusammen mit François Höpflinger und Christian Suter). Sie ist auch Mit-Herausgeberin des Sozialberichts 2012: Fokus Generationen.
Abonnieren
Benachrichtige mich bei

0 Kommentare
Inline Feedbacks
View all comments