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Die Transformation des Alterssektors benötigt mehr Führung. Ein Blick nach Grossbritannien

Interview mit Jackie Marshall-Cyrus

Am 2. März moderierte Stefan Kroll von der terzStiftung eine Podiumsdiskussion auf der AgingFit-Konferenz in Lille (F). Ziel der Diskussion mit internationalen Gästen der Alters- und Technologiebranche war es, neue Geschäftsmodelle für Altersinstitutionen vor dem Hintergrund demografischer Herausforderungen, des Wandels der Pflegebranche und der neuen Möglichkeiten durch digitale Innovationen zu reflektieren.

Podiumsgast war neben Vertretern aus Frankreich und den Niederlanden die diplomierte Pflegeexpertin, Ausbildnerin und Beraterin der privaten und öffentlichen Hand, Jackie Marshall-Cyrus aus Grossbritannien. Sie tritt ein für ein neues Verständnis des Alters und des Prozesses des Alterns und kritisiert, dass ein Grossteil der Stakeholder ein unzureichendes Verständnis für seine Klienten aufbringt. Für innovative Ansätze in der Altersbranche fehle es an Führung auf allen Ebenen.

Die terzStiftung hat Jackie Marshall-Cyrus Anfang April zu einem Interview geladen.

Jackie Marshall-Cyrus ist in ihrer Beratungstätigkeit spezialisiert auf unabhängige Wohnformen und innovative Dienstleistungsangebote. Sie unterstützt Institutionen dabei, innovative und qualitativ hochwertige Lösungen für die Langzeitpflege zu entwickeln. Neben ihrer Tätigkeit als Pflegerin tritt Jackie als Dozentin und Beraterin im Innovationsmanagement auf. Unter anderem begleitete sie Innovate UK als leitende Expertin der Independent Living Platform und als britische Vertreterin diverse Arbeitsgruppen des AAL Joint Programmes. Sie ist Partnerin der Royal Society of Arts und Direktorin bei `Innovation Strategy at Jackie Marshall-Cyrus & Associates.

https://marshall-cyrus.com/about/

Frau Marshall-Cyrus, hinter uns liegen zwei Jahre grösster Belastungen für das Gesundheitswesen. Hat die Pandemie zu grösseren Zerrüttungen auch auf dem Alterssektor geführt?

In vielen Ländern hat die Pandemie zu Störungen geführt, welche die öffentliche Hand veranlasst haben, ihre Zahlungen zu erhöhen, damit daraus kein Zusammenbruch wird. Insbesondere die grossen Dienstleister auf dem Pflegesektor haben Fördermittel erhalten, um ihn zu restrukturieren. Die Herausforderungen bleiben jedoch gleich: die Qualität der Leistungen zu halten und zu kontrollieren – trotz der Vervielfältigung der Arbeit. Durch die Pandemie ist insbesondere im Vereinigten Königreich (Grossbritannien und Nordirland), aber auch anderswo, die Ineffizienz des Gesundheitssystems offen zutage getreten. Die Unfähigkeit, rasch und flexibel auf die Gefahren der Pandemie zu antworten, hat die «Marke» Gesundheitssystem angeschlagen und beschädigt. Diese Schädigung trat in den Augen der Öffentlichkeit und bei den Medien auf. Es hat sich in der ersten Welle der Pandemie gezeigt, dass die Aufgaben der Beschaffung von Schutzmaterial für Pflegekräfte und auch der Infektionskontrolle, des Infektionsschutzes nicht gut genug bewältigt werden konnten. Mängel sind auch bei der Datenerhebung, der Datenerfassung und beim Austausch dieser Daten zutage getreten.

Welchen Wandel nehmen Sie auf der Klientenseite wahr, wie verändern sich deren Bedürfnisse und Wünsche mit Blick auf Wohlbefinden und Ansprüche an Dienstleistungen?

Wir müssen das Gesundheitswesen umbauen – und zwar mit gemeinsamer Überlegung und Anstrengung, Pflegende und Verwaltung wie auch Politik zusammen. Auch dank des Internets sind wir heute viel besser über Krankheiten und Behandlungsmethoden informiert als frühere Generationen. Darüber müssen künftige Pflegekräfte bereits in der Ausbildung aufgeklärt werden. Es bedeutet nämlich auch, dass wir im 21. Jahrhundert nicht mehr das Florence Nightingale-Image pflegen können. Und wir dürfen den paternalistischen Ansatz in der Pflege nicht länger verfolgen: Patienten von heute sind nicht länger passiv und geben die Verantwortung für ihre Gesundheit an Ärzte und Pflegekräfte ab. Patienten im 21. Jahrhundert wollen die Kontrolle behalten.

Sind Trends im Gesundheitswesen durch die Pandemie beschleunigt worden?

Tatsächlich hat die Pandemie Trends beschleunigt, die allerdings keineswegs immer positiv waren. Die Schwierigkeiten bei der Rekrutierung haben noch erheblich zugenommen, ganze Heime mussten schliessen wegen fehlender Pflegekräfte.

Während unserer Podiumsdiskussion in Lille haben Sie bemängelt, dass Führung auf allen betroffenen Ebenen fehlt, im operativen Betrieb, im Management und in der Politik. Wohin gehen hier Ihre Überlegungen?

Bei der Suche nach Leitungen für Alters- und Pflegeinstitutionen sollten die privaten und auch die öffentlichen Anbieter viel stärker auf das Talent achten. Bisher werden hauptsächlich Personen mit bereits vorhandener Führungserfahrung gesucht (die womöglich bereits anderswo aussortiert wurden). Es geht darum, über etablierte Verfahren hinauszuschauen und nicht nur die vorhandene Fachkenntnis im Blick zu haben. Wir sollten auch Quereinsteigern verbesserten Zugang in die Branche ermöglichen. Entscheidend ist die Einstellung, auch mit Blick auf innovatives Denken. Das fachliche know how kann man sich dann noch aneignen. Leitende für solche Institutionen sollten

  • mit Menschen arbeiten können, sie inspirieren und ihnen das Gefühl geben können, wichtig zu sein
  • selbstlos sein, und nicht selbstsüchtig
  • über Empathie verfügen, was sich schon darin zeigt, dass sie ältere Erwachsene nicht wie Kinder behandeln, dass sie ihnen die Angst nehmen können – und dass sie nicht den «pluralis sanitatis» verwenden: «Wie geht es uns denn heute…»
  • die Fähigkeit haben, Risiken auf sich zu nehmen und andere dazu zu bringen, Risiken einzugehen. Es geht darum, andere beeinflussen zu können, verhandeln zu können – denn Verantwortliche aus Politik und Verwaltung müssen überzeugt werden!

Altern ist jedermanns Angelegenheit, aber auf dem Alterssektor zu arbeiten ist nicht jedermanns Sache.

Das Interview wurde am 8. April geführt. Unsere Veröffentlichung ist eine freie Übersetzung ins Deutsche.

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