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Das Neue ist wichtig – aber noch viel mehr die Wiederholung

Autorin: Silvia Künzli, Stifterin der terzStiftung

Silvia Künzli

Silvia Künzli

Neue Ziele, Wandel, Veränderungen: immer wieder etwas Neues. Macht das glücklich, ständig auf der Jagd nach dem Neuen zu sein? Manche bringen sich dadurch ins Unglück. Sie können sich das Neue längst nicht mehr leisten. Abwechslung ist das halbe Leben, heisst ein Sprichwort. Aber eben, nur das halbe Leben. Was ist mit der anderen Hälfte? Was macht sie aus, wenn nicht die Abwechslung?

Repetieren, Wiederholung
Wie denken Sie über Wiederholungen? Wenn ich mich mit meiner Familie treffe – und wir sind eine grössere Familie – dann erzählen wir uns Neuigkeiten: das, was gerade passiert ist und was geplant wird. Aber richtig schön werden unsere Familientreffen dann, wenn wir uns Bilder von früher anschauen oder Geschichten erzählen. Unsere Kinder und Enkelkinder bringen sich aktiv ein, und alle hören interessiert zu. Besonders bei Erzählungen aus der Zeit, als wir Kinder waren und unsere Eltern noch lebten. Geschichten von fröhlichen Familienfesten, Geburtstagsfeiern, dem Unsinn, den wir geredet oder angestellt haben, und Episoden über uns, in denen wir nicht ganz der Norm entsprachen. Es sind oft die gleichen Geschichten, die wir uns gerne wieder und wieder erzählen. Jedes Mal können wir darüber lachen und werden nachdenklich. Das Neue ist wichtig, aber viel mehr sind es die Repetition, die Wiederholungen, die unsere Treffen besonders schön machen.

Es ist schon so, dass nicht alles in uns die Wiederholung will, sondern immer wieder das Neue. Ein neues Auto, neue Kleidung, neue Möbel, eine neue Wohnung, immer alles wieder neu. Sobald auf dem Markt etwas Neues erscheint, regt sich der Wunsch, dieses auch zu haben.

Wieder holen
Warum sind Wiederholungen so wichtig für junge und ältere Menschen? Weil die Wiederholung „wiederholt“. Sie holt wieder, was einmal war und rettet es vor dem Vergessen. Wer sich nicht wiederholt, vergisst. Nur weil wir in der Familie von unseren verstorbenen Grosseltern und Eltern erzählen, kennen unsere Enkel und Urenkel ihre Vorfahren. Nur weil wir ständig wiederholen, was war, lernt die nächste Generation ihre Geschichte kennen und hat die Chance, die Gegenwart zu begreifen. Wiederholung ist wichtig, weil sie die Geschichten des Lebens bewahrt und weitergibt. Die Familie, der Freundeskreis, die Pensionierten einer Firma – sie alle sind wie Erzählgemeinschaften, die weitersagen, was sie in den verschiedenen Zeitspannen erlebt und empfunden haben.

Die Seele muss auch nachkommen
Unsere Kinder und Enkelkinder haben mir das eindrücklich vor Augen geführt. Sie wollten die gleichen Geschichten immer und immer wieder hören obschon sie die Inhalte schon längst kannten. Die Wiederholung war für sie so lange wichtig, bis sie die Geschichte nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen verstanden haben. Ich frage mich oft, wie die heutigen jungen Menschen mit der Informationsflut, den vielen Eindrücke, Einflüsse, Veränderungen nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen verstehen und verarbeiten? Es gibt in der Tat mindestens zwei verschiedene Geschwindigkeiten, eine für das rationale Verstehen, den Kopf und eine der emotionalen Verarbeitung, die Seele.

Neues und Vertrautes
Abwechslung mag das halbe Leben sein – aber eben nur das halbe. Die andere Hälfte ist die Repetition – das Wiederholen all dessen, was die Seele bewegt, bis auch sie es verarbeitet hat. Es sind aus meiner Sicht insbesondere Werte, die der Wiederholung bedürfen. Sie vermitteln Orientierung und Stabilität, einen inneren Kompass. Wer, wenn nicht wir erfahrenen Menschen, könnte gerade das unseren Nachkommen vermitteln und schenken? Einfach dasein, das offene Ohr schenken und hin- statt zuzuhören. Anteil nehmen am Schicksal anderer Menschen. Das ist eine ganz wichtige, wertvolle, ja unentbehrliche Aufgabe reiferer Menschen für die nachkommenden Generationen. Erfahrene Menschen haben viel erlebt und können, was heute so knapp ist, Zeit schenken. Eines der kostbarsten und wertvollsten Geschenke.

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Ilse Czamek
28. April 2013 6:04

Liebe Frau Künzli, endlich ein Artikel, dem ich (fast) nichts hinzuzufügen habe. Merci vielmal!
Aber ins Auge gesprungen ist er mir wegen des „Wiederholens“. In meinem Umfeld sind mehrere ältere Damen, die unter Vergesslichkeit leiden und sich nicht erinnern und deshalb mir auch nicht glauben können, dass ihnen das Wiederholen genau so helfen würde wie einem Jugendlichen, der etwas lernen muss. Wie lange ist es her, dass es hiess: „Repetition ist alles“!
Ich bin fest überzeugt, dass das „wenn Ihr nicht werdet wie die Kinder…“ auch darauf hinweist, dass wir nach der Lebensmitte die Schritte der Entwicklung zurückgehen, einfach wie im Zeitraffer, und vielleicht nicht in derselben Reihenfolge. Natürlich kann der Körper da nicht mit… Und die, deren Leben nicht durch Krankheit oder Unfall abrupt beendet wird, werden dann irgendwann ‚kindisch‘ = dement. Letzte Woche habe ich in den Äther geschrieben, ob mir jemand die Beziehung zwischen Dementi und Demenz erklären kann – kein Echo! So werde ich mich wieder an Wikipedia wenden, aber so kommt keine Kommunikation zustande!
Ich hoffe, dass wir noch mehr von Ihnen lesen dürfen. Alles Gute vom Walensee!