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Da und doch so fern

Fritz Vollenweider
www.seniorweb.ch/know

Wider die Hilflosigkeit
“Da und doch so fern” – so könnten Demenzkranke beschrieben werden. Ein Buch mit diesem Titel bringt Hilfe für pflegende Angehörige.

Ist es ein beinahe unmerkliches Abgleiten in eine verständnisgetrübte Ferne? Beginnt es mit Aggressionen, Behauptungen, Missverständnissen und Fehlurteilen? Die Anfänge einer Demenz bei Partnern, mit denen man zusammenlebt, werden oft nicht als solche erkannt. Vorsicht vor übereilt gewonnener Überzeugung ist ohnehin am Platz.

Wenn dann nach einschlägigen ärztlichen Tests die Diagnose fest steht, ist es für Angehörige manchmal schon zu spät. Sie merken vielleicht gar nicht, dass sie bereits vom Partner, von der Partnerin zum Pfleger oder zur Pflegerin geworden sind. Abgesehen vom Verlust der gewohnten Nähe und des alltäglichen unbeschwerten gegenseitigen Umgangs zwischen Freude und Streit, stellt sich möglicherweise eine quälende Hilflosigkeit ein. Sie führt nicht selten zu Zweifeln an sich selbst, zu Minderwertigkeitsgefühlen, Angst vor Versagen oder zur Furcht, gar selber schon dement zu sein oder es bald zu werden.

Die Nöte pflegender Angehöriger

Auf der anderen Seite gibt es auch die Partner und Familienangehörigen, wie sie Arno Geiger in seinem Buch über die Demenz seines Vaters beschreibt („Der alte König in seinem Exil“, Carl Hanser Verlag München 2011). „…wir schimpften mit der Person und meinten die Krankheit: ‚Lass dich bitte nicht so gehen!’, sagten wir hundertmal, und der Vater nahm es hin, geduldig und nach dem Motto, dass man es am leichtesten hat, wenn man rechtzeitig resigniert.“ (S. 7). Arno Geigers Buch ist sozusagen die literarische Form der Schilderung von Nöten und Problemen pflegender Angehöriger. Beim Lesen schüttelt man noch oft den Kopf, über das nach und nach wegbleibende Interesse der weiteren Angehörigen zum Beispiel, die sich nicht involvieren lassen wollen oder können.

Mit dem Lesen der Analyse und der fachmännischen Anregungen in „Da und doch so fern“ von Pauline Boss kommt das „Aha-Erlebnis“. Als Hilfe für pflegende Angehörige umsichtig und didaktisch so unauffällig wie wirksam dargelegt, weiss man bald alles genauer. Vor allem die Angst verliert ihre bedrohliche Wirkung. Die seelischen Kräfte pflegender Partner erstarken.

Die eigene Haltung kann sich der rational unkontrollierten Haltung des Kranken anpassen. Der Dialog wird möglich, wenn er auch nicht mehr eindeutig rational verläuft, sondern uneindeutig (ambiguous) zwischen Anwesenheit und Abwesenheit wechselt, beinahe von Wort zu Wort manchmal.

Prof. emer. Dr. Pauline Boss-Grossenbacher, amerikanische Psychotherapeutin mit Schweizer Wurzeln, wirkte u.a. an der University of Minnesota und an der Harvard Medical School. Sie definierte den Begriff des ‚ambiguous loss’ in der Psychotherapie. „Loving Someone Who Has Dementia: How to Find Hope While Coping with Stress and Grief“, so der Originaltitel des vorliegenden Werks. Dr. Irene Bopp-Kistler, leitende Ärztin an der Memory-Klinik des Waidspitals Zürich, und Marianne Pletscher, Dokumentarfilmerin und Buchautorin vor allem auf dem Gebiet von Gesundheit und Pflege, sind die Herausgeberinnen dieses Werks mit dem aussagekräftigen deutschen Titel. An der Vernissage im Haus des Sachbuchverlags Rüffer & Rub erzählen sie vom Werdegang der Ausgabe und von der intensiven fruchtbaren Zusammenarbeit auch mit der Übersetzerin Theda Krohm-Linke.

Wie kümmert man sich als betreuender Angehöriger um sich selbst? Denn das ist ganz wichtig, auch für den Kranken. In den neun Kapiteln des Buchs wird mit viel Einfühlsamkeit auf das wahrnehmbare Bild der Demenz hingewiesen. Der Text schildert den charakteristischen Wechsel von ‚ganz nah’ zu ‚weit weg’ anhand von Beispielen aus Therapiefällen der Praxis von Pauline Boss. Er beschreibt Anfechtungen, Nöte, Beanspruchung und Stress von betreuenden Angehörigen. Er zeigt auf, wie diese sich oft selbst gefährden, wenn sie nicht die nötige Widerstandskraft und Flexibilität (Resilienz) besitzen oder erwerben.

“Wahlfamilien”

Besonders sprechen die Kapitel über die „Köstlichen Uneindeutigkeiten“ und die „Genügend gute Beziehung“ an. Sie schaffen die Gewissheit, dass mit einer angemessenen Art und Weise der Beziehungsgestaltung viel an immer wieder regenerierter Nähe und gegenseitiger Freude, wenn’s ganz gut kommt vielleicht sogar mit leisem Humor, gewinnen lässt. Weitere Wege sowohl zum Selbstschutz als auch im Interesse des Kranken zeigen die „Sieben Richtlinien für die Reise“ mit Dementen und der Demenz. Hilfreich ist der Hinweis, dass man Familienrituale weiter pflegen und nicht damit aufhören soll. Sind Familienmitglieder oder auch enge Freunde mit der Nähe zu Patient und Betreuer überfordert – was offenbar häufiger vorkommt als man denkt – sollen andere Personen deren Platz in „Wahlfamilien“ einnehmen.

Es klingt wie Binsenwahrheit, ist aber wesentlich und bedenkenswert: Auch der Kranke nimmt Schaden, wenn sein betreuender Partner seiner Funktion nicht mehr gewachsen ist. Sei es Überforderung, eigene Unsicherheit oder schlichte Unfähigkeit: mit der gestörten Beziehung fertig zu werden (die auf einmal so extrem anders ist als zuvor gewohnt), kann an Grenzen stossen. Da vor lauter „Ratgebern“ auch auf diesem Gebiet guter Rat leider oft sehr selten ist, wenden sich Autorin wie Herausgeberinnen den praktischen Fällen zu und fügen jedem Kapitel „Ideen zu Reflexion und Diskussion“ bei, welche dazu anregen können, die aufgezeigten Wege individuell anzupassen und zu gestalten.

Hilfreich sind auch die Hinweise der Autorin auf die Zusammenarbeit mit Fachkräften und die weiterführenden Hinweise der Herausgeberinnen am Schluss des Buchs.

Pauline Boss: Da und doch so fern. Vom liebevollen Umgang mit Demenzkranken. Herausgegeben von Irene Bopp-Kistler und Marianne Pletscher. 
Sachbuchverlag rüffer & rub, Zürich 2014.

Irene Bopp-Kistler (links) und Marianne Pletscher (rechts vorn) mit Verlegerin Anne Rüffer (Bild fv)

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