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Alle fünf Sinne einbezogen: Projekt Sinnlos

Autor: Dr. Thomas Meyer, Leiter Wissenschaft der terzStiftung

Sinn-losigkeit ist etwas grundsätzlich Anderes als Sinnlosigkeit. Den Hauptpersonen in Evelyne Chauberts Erstlingsroman fehlt jeweils ein Wahrnehmungsfeld. Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten sind nach klassischer Deutung die fünf Sinne des Menschen (auch wenn wir mittlerweile wissen, dass es einige Wahrnehmungsmöglichkeiten mehr für uns gibt, z.B. den Gleichgewichtssinn und das Gefühl für die Lage der eigenen Körperteile im Raum).

Wie nun, wenn sich fünf junge Leute zu einem Projekt zusammentun, denen jeweils einer dieser Sinne fehlt? Eine blinde Frau, ein gehörloser Mann, eine Frau, der die Schmerzempfindung und der Temperatursinn fehlen und die nie schwitzt (CIPA-syndrome), ein Mann, der fast nichts riecht sowie eine Frau, die kaum Unterschiede schmeckt bei dem, was sie zu sich nimmt, finden sich nach dem Willen der Autorin in ihrem Buch zusammen und entwickeln gemeinsam das Projekt Sinnlos.

Die Mitglieder von «Projekt Sinnlos» führen mehrere «Stunts» aus, Aktionen, die für die Unterstützung von Menschen mit Wahrnehmungsdefiziten werben. Um auf Blindheit drastisch hinzuweisen, lassen sie ein Nachrichtenprogramm im Fernsehen ausfallen – der Bildschirm bleibt schwarz. Auf einer Duftstoff-Messe ersetzen sie ein neues Parfüm durch geruchsneutrales Wasser. Eine Talkshow in einem nationalen Fernsehprogramm wird überraschend ohne Ton ausgestrahlt – dafür mit dem permanenten Untertitel «…wenn du nichts hören kannst». ((…)) Evelyne Chaubert schreibt einen Roman, keinen wissenschaftlichen Aufsatz und keinen Wikipedia-Eintrag. Trotzdem kreisen viele Gespräche um Sinneswahrnehmungen und um das Ausgleichen von Wahrnehmungs­defiziten. Dadurch lernt man beim Lesen Einiges darüber, welche Beobachtungen an Menschen beispielsweise jemand macht, der nicht hört, was sie sagen.

Weil der Roman zunächst auf Englisch erschienen ist, sind die handelnden Figuren Amerikaner/-innen und fliegen zwischen Washington, D.C., der Westküste und Denver hin und her. Für europäische Lesegewohnheiten ist das beiläufige Überwinden der riesigen Entfernungen gewöhnungsbedürftig. Die Autorin hat den Roman nicht in Kapitel, also Sinn-Abschnitte eingeteilt. Sie überlässt stattdessen jedem Handlungsträger – den Mitgliedern des Projekts Sinnlos, aber auch Nebenfiguren wie Kommissar Klein oder Dan, dem Journalisten, der über das Projekt exklusiv berichtet – für einige Seiten das Wort. Auf diese Weise ändert sie öfters die Perspektive und den Schauplatz. Teilweise schildert sie aber auch dieselbe Szene aus den Blickwinkeln verschiedener Personen und lässt (als Gerüst gewissermassen) die Dialoge gleichlautend stehen.

Die terzStiftung steht nach dem Rückzug des früheren Mitglieds der erweiterten Geschäftsführung und langjährigen Präsidentin von Pro Audito, Barbara Wenk, derzeit im Gespräch mit Gehörlosen, um zu ermitteln, wie ihre Interessen in die Stiftung eingebracht werden können. Insofern stimmt das «Projekt Sinnlos» sehr gut mit den Zielen der terzStiftung überein. Evelyne Chaubert plant einen zweiten Band als Fortsetzung des Projekts Sinnlos. Wenn sie in das Lektorat noch jemanden einbezieht, der ungewollte Helvetismen beseitigen kann, wird der aufregende Plot, die Fabel der Geschichte, noch besser ausgeformt werden.

  • Evelyne Chaubert, Projekt Sinnlos, von der Autorin selbst aus ihrer englischen Erstausgabe übersetzt, 454 S., Taschenbuch mit persönlicher Widmung CHF 25.- (bestellbar auf www.evelynechaubert.com), E-book bei OrellFüssli CHF 12.-, Kindle EUR 8.99, Taschenbuch bei Amazon EUR 17.11 Veröffentlicht im Selbstverlag, April 2019
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