Altersdiskriminierung: eher geduldet als andere Formen von Benachteiligung

Interview: Dr. Thomas Meyer, Redaktion terzMagazin | Fotos: zVg und iStockphoto

Dass Menschen aufgrund ihres Lebensalters benachteiligt werden, ist weit verbreitet – nicht nur bei Menschen ab 60, sondern auch bei Jüngeren. Wir sprachen mit Prof. Dr. Walter Rehberg, Berater der SPD-Fraktion im Bayerischen Landtag, der an der FHS St. Gallen das Thema wissenschaftlich erforscht hat.

Prof. Dr. Walter Rehberg

Prof. Dr. Walter Rehberg

Herr Professor Rehberg, Sie haben eine Studie zu Formen und Verbreitung von Altersdiskriminierung in der Deutschschweiz geleitet. Welchen Ansatz verfolgte Ihre Untersuchung, und was ist in der Studie mit „Altersdiskriminierung“ gemeint?
Der Ansatz drückt sich im Titel aus: „Formen und Verbreitung von Altersdiskriminierung in der deutschsprachigen Schweiz“. Zunächst wollten wir anhand von Erlebnisberichten, die uns Betroffene mailen sollten, solche Diskriminierungsformen sammeln. Selbstverständlich hatten wir uns vorher einen Überblick verschafft und begründete Vor-Annahmen aufgestellt. Wir wollten wissen, was als diskriminierend empfunden wurde. Später sind neben vielen E-Mails auch telefonisch und postalisch Auskünfte eingegangen. Zudem haben wir im Verlauf der Recherchen festgestellt, dass es in Köln das Büro gegen Altersdiskriminierung e. V. gibt. Hier sind im Verlauf von etwa zehn Jahren Tausende Beschwerden gesammelt worden. Wir konnten sie nicht alle gründlich wissenschaftlich auswerten, haben aber die Tendenzen einbezogen. Nach dieser ersten Phase haben wir auf der Grundlage der Erfahrungsberichte einen Fragebogen erstellt und eine repräsentative Stichprobe von Personen in der deutschsprachigen Schweiz befragt. Die Befragung hat sich nicht etwa auf Personen im AHV-Alter beschränkt, sondern vom 16. Lebensjahr an wurde eine repräsentative Auswahl von Deutschschweizern/- innen in vielen Orten persönlich interviewt. Dabei wollten wir nicht auf eine juristische Untersuchung hinaus, sondern wir fragten, wer sich aufgrund des Alters schon einmal diskriminiert gefühlt hat. Allerdings habe ich jeden Fall überprüft, in dem ganz andere Gründe für eine vermeintliche Diskriminierung vorgelegen haben können.

Welche Ergebnisse haben Sie am meisten überrascht?
Etwa drei Viertel derjenigen, die uns ihre Erlebnisse berichtet haben, erzählten von Vorfällen, bei denen sie benachteiligt wurden. Aber ein Viertel oder fast ein Drittel hat auch erzählt, wie sie selbst jemanden aus Altersgründen diskriminiert haben. Das kann nicht blosse Gedankenlosigkeit und ein Mangel an Unrechtsbewusstsein gewesen sein. Für gewöhnlich verschweigen Interviewpartner bei einer Umfrage alles, was nicht korrekt ist, sie ungünstig dastehen lässt – alles, was unerwünscht und sozial sanktioniert ist. Daraus müssen wir folgern, dass Altersdiskriminierung nicht nur weit verbreitet, sondern auch weniger mit Sanktionen bewehrt ist als etwa Diskriminierung wegen des Geschlechts oder wegen einer Behinderung. In dieser Deutlichkeit war das unerwartet. Ähnlich überraschend war, dass zwar Personen ab 60 oder 65 Jahren vermehrt darüber berichtet haben, dass sie Altersdiskriminierung am eigenen Leib erlebt haben. Aber auch 30-Jährige und noch Jüngere hatten Erlebnisse, die sie selbst als Altersdiskriminierung einstuften: etwa, wenn ein Arzt sagte, in ihrem Alter müssten sie mit dem Auftreten bestimmter Symptome rechnen, da sei das normal.

Haben Ihre Beobachtungen im Alltag mit den Aussagen der Studienteilnehmer übereingestimmt?
Fast alles, was Teilnehmer an der Studie berichtet haben, hatte ich zuvor schon gehört oder selbst beobachtet. Natürlich wird jemand, der sich länger mit so einem Thema beschäftigt, aufmerksamer und sieht gezielter hin. Aber wir haben im Verlauf der Studie festgestellt, dass ganz allgemein ein Bewusstsein für Diskriminierung aus Altersgründen vorhanden ist, sodass wir nicht lange erklären mussten, was damit gemeint ist. Das heisst, dass sehr viele Menschen solche Beobachtungen gemacht haben und machen: dass sie eine Stelle ausschliesslich wegen des Alters nicht bekommen haben, nicht zu einer Weiterbildung durften oder dass ihnen etwas nicht zugetraut wurde, was sie gut leisten konnten.

Welche Ergebnisse haben Ihre Erwartungen bestätigt?
Es war uns von Vornherein bekannt, dass es negative Stereotype (Vorurteile) gegenüber Älteren gibt. Hier sind viele unserer Vor-Annahmen bestätigt worden. Grundsätzlich kann man jede Altersbegrenzung in Frage stellen. Alterslimiten sind in meinen Augen überflüssig, wenn sie nicht durch Überlegungen etwa zum Jugendschutz ausnahmsweise gerechtfertigt sind. Aber in der Politik sind sie vollkommen unnötig. Wenn die Stimmberechtigten einen 101-Jährigen wählen oder eine 17-Jährige, dann sind die gewählt. Die Bürger müssen sie ja wohl für kompetent gehalten haben. Nur das zählt.

Wo sehen Sie Möglichkeiten, durch Gesetzesänderungen Altersdiskriminierung zu beseitigen?
Die Schweiz benötigt meiner Ansicht nach über Artikel 8,2 der Bundesverfassung hinaus ein Gesetz, das sich auf privatrechtlichen Verkehr bezieht. In der Verfassung ist nämlich nur staatliches Handeln verboten, das Gruppen oder einzelne Personen diskriminiert. In der EU ist es beispielsweise nicht legal möglich, jemandem mit der einzigen Begründung eine Anstellung zu verweigern, sie oder er sei zu alt oder zu jung dafür. Wohlgemerkt, nicht mit dem Hinweis auf mangelnde Erfahrung oder zu geringe Beweglichkeit, sondern ganz ausschliesslich wegen des Alters. In der Schweiz ist das legal. Ich finde, das muss sich ändern.

Was heisst «selbständig bleiben» für Sie ganz persönlich?
Mit 47 Jahren denkt man noch nicht ständig an die Gefährdungen der eigenen Selbständigkeit. Aber wenn die Frage auf körperliche Fitness zielt: Ich betreibe Krafttraining und Ausdauersport. Für den Wissenschaftler ist auch die Frage nach dem geistigen In- Schwung-Bleiben nicht aufrüttelnd: Kognitiv bin ich mit so vielem befasst, dass ich nicht eben zusätzlich noch Sudoku machen muss, sondern eher froh bin, wenn ich nicht denken muss. Und ich habe auch nicht vor, mit 63 Jahren den Stift fallen zu lassen.

Prof. Dr. Walter Rehberg
Dr. Walter Rehberg ist Berater der SPD-Fraktion im Bayerischen Landtag und war bis 2011 Professor am Institut für Soziale Arbeit (IFSA) der FHS St. Gallen. Nach Studien in Wien und Los Angeles arbeitete und unterrichtete er u. a. in Long Beach, Freiburg i. Br., Berlin und Bern. Seit 2006 war Walter Rehberg Dozent und Projektleiter an der Abteilung Forschung des IFSA. Am NF-Projekt „Altersdiskriminierung: Formen und Verbreitung“ haben sich auch Pro Senectute Schweiz, die EU-Kommission sowie das Fürstentum Liechtenstein beteiligt.

Das Bild von den hinfälligen Greisen trifft heutzutage selbst auf die meisten 80-Jährigen nicht mehr zu. Die Studie zur Altersdiskriminierung zeigt, dass sogar schon 30-Jährige wegen des Alters diskriminiert werden können.

1 Comment
  • Ilse Czamek
    Posted at 07:41h, 26 März Antworten

    Mitte der Sechziger Jahre waren mein damaliger Mann und ich mit einem befreundeten Pärchen – notabene Ruhrländer – in einem Lokal, in dem am Nebentisch ein paar ‚Halbstarke‘ heiss diskutierten. Der Kollege mischte sich irgendwie in ihr Thema ein und erhielt zur Antwort: „Heb‘ d’Schnorre zue, du altr Sack!“ Wir waren Anfang Zwanzig…
    Schön, dass ein Aussenstehender konkret aufzeigen kann, was bei uns geändert werden sollte und auch gleich noch den Verfassungsartikel dazu bezeichnen kann. Trauen wir uns auf eine Initiative? Wenn Pro Senectute auf diese Idee käme, würden wir das sicher unterstützen.

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