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Leben und wohnen – meine Vision für die Zukunft

Autorin: Judith Stamm, alt Nationalratspräsidentin (1996/97) | Foto: iStockphoto

Gemäss Studien werden immer mehr Menschen hundertjährig. Also Zeit für mich, mich mit dieser Möglichkeit zu befassen. Wie sehe ich meine Situation in 25 Jahren? Unter der Voraussetzung natürlich, dass mir meine Gesundheit bis dahin einigermassen erhalten bleibt. Ich sehe mich in einem behaglichen Raum, nicht mehr unbedingt in meiner aktuellen Wohnung, in einem bequemen Stuhl sitzend. Wenn ich mir eine Tasse Kaffee wünsche, dann spreche ich das Wort „Kaffee“ deutlich aus. Denn die Wände meines Raumes sind informatisiert und mein Wort setzt die Kaffeemaschine in Bewegung. Ich höre die Geräusche des Kaffeemahlens, das Zischen beim Erhitzen des Wassers, das Gurgeln, wenn der schwarze Saft in die Tasse läuft. Vor Jahren waren diese Haushaltmaschinen alle geräuschlos. Aber die Psychologen haben herausgefunden, dass Lautlosigkeit der Seele und dem Gemüt alter Menschen nicht bekommt. Also wurden wieder Töne beigemischt. Kein Problem. Auch die Lautstärke kann variiert werden.

Leben und wohnen – meine Vision für die Zukunft

Leben und wohnen – meine Vision für die Zukunft

Spezialabonnement für das Roböterchen
In der Ecke des Raumes steht anstelle eines Putzschränkchens ein japanisches Roböterchen in Wartestellung. Ein Putzschrank ist überflüssig. Die für Bau und Möblierung verwendeten Materialien sind alle selbstreinigend, dank Nanotechnologie. Das Roböterchen serviert mir den Kaffee. Es richtet mir auch das Hörbuch ein und erledigt alles, was ich aufgrund der Altersschwäche und des abgebauten feinmotorischen Geschicks nicht mehr selbst bewerkstelligen kann. Das Roböterchen ist als „Sie“ oder „Er“ zu kaufen. Mit meinem Spezialabonnement habe ich immer Anspruch auf die neueste Ausführung. Der Unterschied zwischen der weiblichen und der männlichen Form liegt nicht in der Funktion sondern nur im Design. Die Psychologen haben nämlich herausgefunden, dass geschlechtslose Roböterchen als Haushilfen die Neigung alter Menschen zu depressiver Verstimmung verstärken können.

Freiwilligenarbeit boomt!
An diesem Punkt stellt sich natürlich die Frage, wie es dannzumal mit meinen menschlichen Kontakten bestellt sein wird? Da mache ich mir überhaupt keine Sorgen. Meine Angehörigen, meine Freunde und Bekannten werden wohl die meisten weggestorben sein. Aber die Freiwilligenarbeit boomt! Niemand wird mehr in irgendeinem Gebiet Karriere machen können ohne einen Ausweis über geleistete Freiwilligenarbeit vorzulegen. Und diese ist jährlich neu zu erbringen. So erhalte ich dann jede Woche eine Liste mit Angeboten. Menschen aus allen Bereichen der Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik suchen Gelegenheiten, ihr Pensum Freiwilligenarbeit zu absolvieren. Ich wähle aus, kreuze an, das Roböterchen befördert meine Liste weiter. Freiwillige kann ich im Gegensatz zum Erledigen der Bankgeschäfte nicht via Internet engagieren.
Die Psychologen haben herausgefunden, dass es meiner Altersklasse nicht zuträglich ist, auf einen rein technischen Tagesablauf festgelegt zu sein. Gewissen archaischen Neigungen unserer Charaktere muss Rechnung getragen werden. Von Hand Formulare auszufüllen ist für meine Generation eine total verinnerlichte, befriedigende Tätigkeit. Die darf man uns nicht nehmen. Zudem könnte sich bei technischer Überforderung eine ganz leichte Tendenz zum Ausrasten entwickeln. Das würde dann doch eine gewisse Unberechenbarkeit der Situation zur Folge haben, die man tunlichst vermeiden will.

Im allgemeinen gelten wir aber als pflegeleicht und vergnügt. Die Freiwilligen lieben uns. Und der Kaffee, den unsere Roböterchen servieren, schmeckt ganz exquisit!

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