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…Wil si Hemmige hei

„Die Hemmschwelle ist eine psychologische Beobachtung, dass ein Mensch erst nach besonders intensiver Motivation bereit ist, eine bestimmte Aktion auszu­führen, wenn diese gegen erlernte oder vererbte Verhaltensweisen verstösst.“

Autorin: Annemarie Golser, Redaktion terzMagazin

Oben steht die etwas komplizierte wissenschaftliche Definition eines Phänomens, das die zwischenmenschlichen Beziehungen stark prägt.

Die ältere Frau ist in der Drogerie vor mir an der Reihe. Sie wirkt angespannt, schaut etwas hilflos umher und bittet schliesslich die Verkäuferin, auf die Seite zu treten. Ohne dass ich die Ohren spitze, bekomme ich mit, was da Ungeheuerliches gewünscht wird.
Ein Medikament, um das Gedächtnis zu stärken. Das ist doch nichts, wofür man sich schämen müsste!
Beim Seniorenessen in unserer Pfrundscheune spielt ein Musikus alte Weisen aus unserer Jugendzeit. Ich muss einfach mitsummen, mich zum Rhythmus bewegen. Ich ernte zum Teil betretene Blicke und kann mir die Diskussionen an den Tischen denken.
Bei meiner Mitarbeit in der Brockenstube habe ich immer wieder erlebt, dass sich Kundinnen (passiert offenbar nur bei Frauen) hinter einem Regal versteckten, wenn ein bekanntes Gesicht auftauchte. Wer will schon beim „second hand“-Einkauf ertappt werden!
Die betagte Nachbarin verlässt ihre Wohnung schon lange nicht mehr, weil sie sich nicht mit einer Gehhilfe in der Öffentlichkeit zeigen will.
Gehemmte Menschen sind sich ihrer Blockade wohl bewusst. Sie wirkt sich aus auf die Körperhaltung und den mangelnden Blickkontakt. Der Liedermacher Mani Matter bringt es in seinem Song „Hemmige“ auf den Punkt: „Si wäre villicht gärn im Grund gno fräch und dänke, das sig ihres grosse Päch und s’laschtet uf ne win e grosse Stei, dass si Hemmige hei.“
Es kann sein, dass die jüngere, keckere Generation davon weniger betroffen ist.
Hemmungen sind allerdings auch dazu da, dass wir die Schwelle zum Statthaften, zum sittlich Vertretbaren, nicht überschreiten. In der letzten Strophe seines Liedes geht Mani Matter wie immer in die Tiefe: „und weme gseht, was hüt der Mönschheit droht, so gseht me würklich schwarz, nid nume rot und was me no cha hoffen isch alei, dass si Hemmige hei“. Vor vielen Jahren geschrieben und  doch hochaktuell!

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