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Tanten: ein verschwindender Ehrentitel

Autorin: Annemarie Golser, terzExpertin

Geprägt von der extrem patriarchalischen Familienstruktur, war es ganz selbstverständlich, dass Hilda, als Älteste der grossen Kinderschar, der Mutter zur Hand ging. Zu der Zeit, da ich als Patenkind in ihr Leben trat, hatte sie schon resigniert und den Gedanken an eine eigene Familie aufgegeben. Ich sah sie nie untätig. Immer beugte sie sich über eine Arbeit, die sie gewissenhaft und zuverlässig ausführte. Stets aber wirkte sie verschlossen, freudlos. Sie liess mich auf behutsame Weise an ihrem Schicksal teilhaben und ich war stolz auf ihr Vertrauen.
Tante Friedy war für mich die gütige Märchenfee schlechthin, rundlich, weich, heiter. Sie vermittelte Geborgenheit, lockte zum Anschmiegen. Auch sie habe sich in ihrer Jugend nur schwer damit abfinden können, unverheiratet zu bleiben. In ihrer Anstellung als Filialleiterin einer Reinigungsfirma mitten in der Stadt Bern, war sie in ihrem Element. Sie liebte den Umgang mit der Kundschaft mit lächelnder Gesprächigkeit. Die Einladungen zu den Aufführungen des Weihnachtsmärchens im Stadttheater, gehörten für die Nichten und Neffen zum Höhepunkt des Jahres. Gerne spielte Tante Friedy auf ihrer Zyther die Melodie: „Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist“. Sie hat diese Weise wohl zu ihrem Lebensmotto gemacht.

Tanten: ein verschwindender Ehrentitel

Tanten: ein verschwindender Ehrentitel

Geheimnisumwitterte Liebesbeziehung
Das „Nesthäkchen“ Dora profitierte von der grösseren Milde in der Erziehung. Ihr Lebensstil unterschied sich wesentlich von demjenigen ihrer Geschwister. Sie durfte ins Ausland reisen, Sprachen lernen. Sie spielte Tennis, bemalte Porzellan, erwarb noch in späteren Jahren den Führerschein. In berührenden Notizen aus ihrem Nachlass offenbarte sich uns erst nach ihrem Tode die Tiefe und Tragik einer geheimnisumwitterten Liebesbeziehung.
Die verwandtschaftlichen Bezeichnungen, die als Ehrentitel galten, gibt es heute zum Teil nicht mehr. Keinem Kind wäre es früher in den Sinn gekommen, Eltern und Grosseltern mit dem Vornamen zu benennen. Onkel und Tanten haben nur noch rechtlich eine Bedeutung. Meine drei unverheirateten Tanten verwöhnten uns Nichten und Neffen mit liebevoller Mütterlichkeit. Sie beglückten mich nicht nur mit Silberbesteck und Kristallvasen, sie schenkten mir ihr Herz.

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