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Mehr Pflegepersonal mit Herz und Hand

Autor: Roland P. Poschung

Die demografische Entwicklung bereitet grosse Sorgen. René Künzli, Schweizer Pionier in Altersfragen und Mitbegründer der terzStiftung in Berlingen, fordert einen fairen, sinnstiftenden und respektvollen Umgang mit den Generationen: «Sukzessive Übergänge und die Prüfung von neuen Modellen sind notwendig.»

René Künzli, der so viel in der Schweiz und im Thurgau für ein anständiges Leben im Alter getan hat, empfängt uns gut gelaunt in seinem Büro. Und doch beginnt unser Gespräch mit einem ernsten Thema, mit dem Rückblick auf die Anfänge der Sterbehilfe und Sterbeethik. Mit dem Aufkommen von Exit und Dignitas kamen die Alters- und Pflegeheime in eine schwierige Situation.

«Damals wurde uns wegen diesen <Dienstleistungen> schnell bewusst, dass unsere Alters-Residenzen klare Richtlinien bezüglich der Sterbehilfe und praktische Leitbilder für die Sterbeethik brauchten. Dabei standen Stichworte wie Vorgehensweisen der Sterbehilfeorganisationen, die Notwendigkeit von Zweitgutachtern, der Umgang mit den Angehörigen, die Hilfsaspekte für die Mitarbeitenden, die Vorbereitung der Mitbewohnenden und der Abschied im Vordergrund», erinnert sich Künzli.

Ganz wichtig war ihm eine offene, ehrliche Kommunikation, die die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fördern sollte. Künzli betont: «Pflegepersonal, dem gegenüber ein Gast den Willen äussert, assistierten Suizid zu begehen, ist verpflichtet, dies der Pflegeleitung und der Betriebsleitung zu melden. Der Wunsch, sein Leiden eigenverantwortlich abzukürzen, sollte in jeder Alterseinrichtung Leitungssache sein; die Verantwortung darf nicht auf Mitarbeitende abgewälzt werden.»

René Künzli trifft sich regelmässig zum Austausch mit seinen Mitarbeitenden.

René Künzli trifft sich regelmässig zum Austausch mit seinen Mitarbeitenden.

Respektvoller Umgang
Die Heim- oder Residenzleitung sollte rasch eine Gruppe oder Kommission zusammenrufen, in der ein Vertrauensarzt gemeinsam mit den Pflegedienstleistenden die Einzelheiten des Verfahrens, je nach den Wünschen des Gastes und der Infrastruktur des Hauses, festlegen. Die Leitung soll sich dann um die Gespräche mit den Ärzten kümmern, sollte Kontakt zu den Angehörigen aufnehmen, falls dies der Suizidwillige wünscht, und Mitarbeitende von Sterbehilfeorganisationen sollen im Betrieb geführt werden. Ein respektvoller Umgang mit diesen Prozessen wird dadurch gewährleistet.

René Künzli wird emotional: «Sie müssen wissen, meine Mutter war für mich eine prägende Person, sowohl als Kind wie auch als Erwachsener im eigenen Betrieb. Schon sie legte grossen Wert auf Ethik. Die Kernfrage im Tun und Handeln rund um alle Altersthemen war für mich die Frage, ob ich das für meine Mutter wollen würde.»

Das Zwischenmenschliche im Alltag bot gute Gelegenheiten, alltagstaugliche Erfahrungen und individuelle Wünsche zu sammeln. Erste Pionierschritte zeigten sich in den 1970er Jahren: Künzlis Betrieb, das «Neutal» in Berlingen, war die erste Institution, die den Gästen eine Menüauswahl bot, später war es der erste Heimbetrieb in der Schweiz, der mit «System 2Q» von der ETH Zürich zertifiziert wurde.

Demografische Revolution
René Künzlis Gedanken fanden starken Einfluss in der Tertianum-Gruppe von 1987 bis 2005, danach verkaufte er sie und gründete zusammen mit seiner Frau Silvia die terzStiftung. Heute ist er ihr Stiftungspräsident und befasst sich mit der Zukunft des Älterwerdens und mit der demografischen Entwicklung. Dabei erinnert er an den Soziologen Reimer Gronemeyer und sein Buch «Der Kampf der Generationen». Darin wird deutlich, dass der Generationenwandel die grosse Herausforderung der Zukunft für Gesellschaft, Wirtschaft und Politik wird.

Konkret: Die Renten werden sinken, die Gesundheit wird unbezahlbar, die Älteren dominieren zahlenmässig die Jungen, die Gesellschaft droht am Generationenkonflikt zu zerreissen. Alle Bereiche unseres Lebens werden von der demografischen Revolution betroffen sein.

Die Situation im Thurgau
Aktuell wird in den Heimen die Qualität fast ausschliesslich an quantifizierbaren Kriterien gemessen, die insbesondere die Krankenkassen verlangen. Ob sich die Heimbewohner wohl und verstanden fühlen, also die Erhebung der subjektiven Qualität, interessiert weniger. Obwohl das eine ganz entscheidende Frage ist, findet Künzli: «Es darf doch nicht sein, dass die qualifiziertesten Mitarbeitenden in der Pflege die Mehrzahl ihrer Arbeitszeit hinter dem Computer sitzen und laufend die geleisteten Dienste minutengenau auflisten, nur damit die Pflegeeinstufungen <punktgenau> für die Krankenkassen ausgewiesen werden können. Die Richtung hin zu immer stärkerer Akademisierung der Pflege erachte ich angesichts des demografischen Wandels als eine riskante Ressourcenfrage in der Zukunft.»

Im Thurgau ist für Künzli die Entwicklung positiv: «Heute sind die öffentlich-rechtlichen und privat betriebenen Institutionen qualitativ ebenbürtig. Das umfassende Qualitäts-Audit des Kantons, das 2004 erstmals im Neutal Berlingen durchgeführt wurde, habe ich als Betriebsleiter in bester Erinnerung: klare Zielsetzungen, ausgewiesene Auditoren und saubere Ablaufprozesse mit einem umfassenden Schlussbericht. Das war eine Pionierleistung unseres Kantons. Periodisch werden in unserem Kanton alle Heime so überprüft. Hier nimmt der Kanton Thurgau seine Aufsichtspflicht wahr, sichert damit eine hohe Heimqualität und wertschätzt die Mitarbeitenden in diesen Institutionen.»

Aufgaben für alle
Gesellschaft, Politik und Wirtschaft sollten die Menschen vor und insbesondere nach der Pensionierung wertschätzender behandeln und nicht wie heute «sozial entsorgen». René Künzli: «Sie sind es nämlich, die mit ihrem Erfahrungswissen, ihrer Zuverlässigkeit und Loyalität Werte einbringen könnten, die sonst immer mehr verloren gehen. Ältere Menschen wollen für die Gesellschaft und Wirtschaft noch Nutzen stiften und nicht despektierlich auf das Abstellgleis gestellt werden.»

Es braucht, so Künzli, einen neuen Generationenvertrag, der auf die nachfolgenden Generationen mehr Rücksicht nimmt. «Es braucht mutige Pionierschritte in der Schweiz, haben wir doch 2013, nach dem Gesundheitsbericht der OSCD, den weltweit höchsten Altersdurchschnitt mit 82,8 Jahren erreicht», analysiert der Thurgauer. Die alternde Gesellschaft sollte möglichst lang aktiv, selbstbestimmt und mobil bleiben.»

Zum Autor: Roland P. Poschung, Bronschhofen, ist Medien- und Ausbildungsspezialist. (www.mua.ch).

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