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Häusliche Tugenden

Annemarie Golser

Annemarie Golser

Autorin: Annemarie Golser, Redaktion terzMagazin

Häusliche Tugenden werden immer noch hoch bewertet, ihr offensichtliches Fehlen kritisiert.

Für den Pausenkaffee bei der Probe des Seniorenchors spendet das „Geburtstagskind“ jeweils ein Gebäck. Ich bringe süsse „Spitzbuben“ aus der Hand und dem Ofen einer hilfsbereiten Nachbarin. Aus Erfahrung weiss ich, dass jetzt von allen Seiten die Frage kommt: “Hesch sälber bache?“. Ich verneine und gebe die Komplimente für die willkommene Leckerei gerne an die richtige Adresse weiter.
Im Nebenhaus hat der Pizzakurier eine gute Kundschaft. Aber wie kann sich die “Familienfrau“ einen Lesenachmittag im Garten erlauben! Zu diesem Thema erinnere ich mich an die bekannte Fabel von Jean de la Fontaine: „ La cigale et la fourmi“. Da ist die Grille, die einen Sommer lang sang und jubilierte und die Ameise, die eifrig Vorräte für den Winter sammelte. Die Moral dieser Geschichte leuchtete uns damals im Französisch-Unterricht ein. Allerdings fühlten wir uns eher der Grille zugeneigt.
Meine stets fröhliche und sangesfreudige Mutter spielte in unserer Familie die Rolle der Grille. Sie vernachlässigte den Haushalt nicht, erledigte die nötigen Arbeiten gewissenhaft, aber – wie sie selber lachend bemerkte – mit wenig Begeisterung. Es störte sie zum Beispiel nicht, dass die Truhe mit der Flickwäsche niemals leer wurde. In unserer Verwandtschaft gab es auch die „Ameise“. Sie war in allen Belangen der häuslichen Tätigkeiten perfekt. Ihre Koch- und Backkünste waren legendär, ihre Wäsche reklameweiss, ihre Handarbeiten raffiniert, die Regale im Keller mit Eingemachtem gefüllt. Ich habe sie nie singen gehört.
Was antwortet die Grille in der Fabel auf die Frage, was sie in der Sommerzeit getrieben habe?
„Ich habe Tag und Nacht alle Leute durch mein Singen ergötzt“. Das ist doch auch ein Dienst an der Gesellschaft! Aber eben, vom Tirilieren wird man nicht satt und wer möchte schon einen ganzen Winter lang hungern.

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