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Gute und schlechte Treppen

Autorin: Annemarie Golser, terzExpertin

Die schlechte Treppe flösst Angst ein, die gute Treppe führt direkt ins Paradies der grossmütterlichen Fürsorge.

Annemarie Golser

Annemarie Golser

Das Treppenhaus hat grüne Wände und rote Handläufe. Die Steinstufen sind mosaikverziert. Das Kind muss sich leise und vorsichtig bewegen. Die Mieterin im Parterre mag keine Kinder die laut sind, Stufen überspringen und damit ihre Glühbirnen in den Lampen zum Erlöschen bringen. Es ist ein stilles Haus in einer stillen Gegend. Hellhörig kann das Kind die wenigen Geräusche vor der Wohnungstüre bald einmal zuordnen: den müden Schritt des von der Arbeit heimkehrenden Vaters – die Stöckelschuhe der jungen Frau, die in der Mansarde lebt – den leicht hinkenden Gang des Schabzigerverkäufers. In seinem Rückenkorb trägt er „Zigerstöckli“ und Birnbrot, ist immer für einen vergnügten Schwatz bereit, und noch tagelang dringt der scharfe Geruch seiner Ware durchs Schlüsselloch in die Wohnung. Die schlechte Treppe bringt Ängste. Das Kind findet auf der untersten Treppenstufe eine tote Amsel. Die Spielgefährtin will damit die sensible Kameradin erschrecken. Der Trost der Mutter kann nicht verhindern, dass ihre Tochter noch lange Zeit diesen starren Tierkörper vor Augen hat.
Das Schulhaus ist ein Steinkoloss. Ein Gebäude für Riesen. Über die breiten Treppen ergiesst sich in den Pausen und bei Schulschluss eine drängende, lärmende, boxende Masse. Die Schülerin mag das Treppenhaus nur dann, wenn sie allein „vor der Türe“ eine Strafe absitzen muss. Die leisen Töne aus den Schulzimmern, die Vielfalt der Gerüche, die harmlos wirkenden Säcklein mit dem Turnzeug an den Haken, die Hausschuhe unter den Bänken, mildern das Bedrohliche.
Die Treppe im Haus der Grossmutter ist eine gute Treppe. Steil, mit ausgetretenen, nach Bodenwichse duftenden Holzstufen, führt sie das Kind direkt ins Paradies der grossmütterlichen Fürsorge. Die gedeckte Laube mit den bunten Fensterscheiben ist so ganz anders als das düstere Treppenhaus der elterlichen Wohnstätte. Hier ist es hell und warm, die Sonnenstrahlen brechen farbig durchs Glas. Das Kind darf die Treppe für sich allein in Beschlag nehmen, auf dem Hosenboden rutschen und die Stufen mit seinen Puppen und Stofftieren belegen.
Selber Grossmutter geworden, hat „das Kind“ nun eine gute Treppe im eigenen Haus.
Schön gestaltet lädt sie ein zum Verweilen, zum Dasitzen und Zwiegesprächehalten mit den Vorfahren, die goldumrahmt den Treppenaufgang zieren. Treppen, wenn man älter wird? In der Begeisterung für das neue Haus streuen wir Bedenken beiseite. Es gibt ja Lifte, Handläufe – und sonst erklimmen wir halt die Stufen auf allen Vieren.

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