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Die 4. Vorsorgesäule – Ein nachhaltiges Modell?

Autor: Eric Waidyasekera, terzExperte

Im Rahmen des World Demographic and Ageing Forum hat vor kurzem in St. Gallen eine Veranstaltung über die 4. Vorsorgesäule stattgefunden. terzExperte Eric Waidyasekera hat für uns an der Tagung teilgenommen und berichtet darüber.

Um sich Stabilität für seinen Überlebenskampf zu sichern, nutzte der Mensch bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt seiner zivilisatorischen Entwicklung verschiedene Methoden der Vorsorge. Schon zu Urzeiten begann er mit Vorkehrungen, um Nahrungsmittel länger haltbar zu machen, wie Milch zu Käse zu verarbeiten und Trockenfleisch zu erzeugen. Mit der Erfindung von Geld und später den Anlagestrategien dafür, konnte der Vorsorgehorizont auf verschiedene Arten auf Jahre ausgedehnt werden. Nicht zuletzt konnte diese Massnahme dank des später sich entwickelnden Versicherungswesens verlängert und befestigt werden. Die Vorsorge gilt heute als eine Stütze für ein erfülltes Leben und eine Grundlage für eine fruchtbare gesellschaftliche Entwicklung.

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Von Mr.checker (Eigenes Werk) [CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons

Die 3 Säulen

Das Schweizer 3-Säulen-Rentenmodell gilt als eines der besten Systeme für die Sicherheit und Dauerhaftigkeit der Altersvorsorge in unserer Gesellschaft. Warum? Weil es auf drei Prinzipien fusst, nämlich
(1) dem Generationenvertrag, d.h. der direkten Umlagerung von laufend erwirtschaftetem Geld von den Jungen zu den Alten,
(2) dem Renten-Versicherungssystem, bei dem jetzt erwirtschaftetes Geld dem Einzelnen später im Alter zurückvergütet wird, und
(3) der Selbstvorsorge, wo jedermann selbstverantwortlich für seine persönlichen Altersansprüche vorkehrt.
Diese Prinzipien gelten als unabhängig voneinander und komplementär, und sie basieren auf dem Glauben an ein dauerndes Wachstum der Wirtschaft. Hinzu kommen weitere soziale Versicherungen, wie für Arbeitslosigkeit und Krankheit. Das Sicherheitsgefühl in unserem Land ist nicht nur gross, sondern diese Errungenschaften werden mittlerweile als selbstverständliche Ansprüche in unsrer Gesellschaft betrachtet.

Seit Kurzem ahnt man jedoch, dass das heutige Vorsorgesystem seine Grenzen hat, und dass es seine zukünftigen Verpflichtungen ohne Anpassungen nicht umsetzten und garantieren kann. Die Umlagerung kann nicht im gleichen Ausmass ewig funktionieren wegen der demographischen Entwicklung – der Altersdurchschnitt der Bevölkerung steigt, und es stehen immer weniger Erwerbstätige pro Rentner zur Verfügung: Bei der Einführung der AHV 1948 kamen auf 100 Erwerbstätige 15 Rentner, heute sind es bereits 30. Die Renten-Versicherung kann ihre künftigen Leistungen nicht sicherstellen, weil die Wirtschaft langsamer wächst als gedacht. Die Selbstvorsorge ist nur bei höheren Einkommen denkbar, und der Anteil der weniger Verdienenden nimmt stetig zu. Die erwarteten finanziellen Ansprüche der Senioren können nicht befriedigt werden, ohne die folgenden Generationen stärker zu belasten.

Solange man an den gängigen Prinzipien und Theorien festhält, deren Faktoren weitgehend auf wirtschaftlichem, materiellem und Wunsch-Denken beruhen, können kaum überzeugende, neue und zufriedenstellende Lösungen gefunden werden. Die demografische Alterung zwingt uns, über neue Formen für ein solidarisches Zusammenleben im Alter nachzudenken. Ziel ist, dass Menschen im Alter oder in schwierigen Lebenssituationen zu Hause bleiben können und dabei durch erfahrene und liebenswürdige Freiwillige – gut umsorgt bleiben.

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Die 4. Vorsorgesäule

Die Idee, Arbeitszeit sinnvoll zu verwenden, um seine Vorsorge zu verbessern, wird seit einigen Jahren konkreter unter dem Begriff „4. Säule“ diskutiert. Diese operiert wie ein Vertrag, ähnlich der 1. AHV/IV-Säule: Wer in jüngeren Jahren Freiwilligenarbeit im Sinne von Nachbarschaftshilfe erbringt, darf in späteren Jahren erwarten, dass ihm – wenn nötig – ebenfalls unentgeltlich geholfen wird. Die Zeitvorsorge erleichtert den Nutzern den Einstieg in ein strukturiertes nachberufliches Engagement und ermöglicht es, die Lebensqualität zu verbessern.

In der Schweiz sind in diesem Zusammenhang zwei Projekte angelaufen.

Das St Galler-Modell:

Die „Stiftung Zeitvorsorge“ wurde 2012 von der Stadt St Gallen gegründet mit dem Zweck, ein Zeitaustauschsystem für Senioren aufzubauen und zu betreiben. Zu den Mitwirkenden gehören die lokalen Kirchgemeinden, die Frauenzentrale, das Schweizerische Rote Kreuz Kanton St. Gallen und die kantonalen Dachorganisationen von Pro Senectute und Spitex. In einer ersten Phase wird ein Pilotversuch bei der Bevölkerung auf dem Gebiet der Stadt St. Gallen durchgeführt. Dieser soll 2017 evaluiert werden, und dann soll das System auf das ganze Kantonsgebiet ausgedehnt werden.

Ziel der Zeitvorsorge ist, älteren Menschen so lange wie möglich ein selbstbestimmtes Leben zu Hause zu ermöglichen. Dabei können aktive und rüstige Rentnerinnen und Rentner weniger fitte Seniorinnen und Senioren bei der Alltagsbewältigung unterstützen. Ihr Engagement wird anerkannt,  indem ihre geleisteten Einsatzstunden einem persönlichen Zeitkonto gutgeschrieben werden. Sie können dann später, wenn sie auf Hilfe angewiesen sind, eingesparte Stunden für eigene Leistungsbezüge einsetzen. Die Einsätze können Hilfeleistungen und Unterstützung für pflegende Angehörige, administrative Dienste, Freizeitgestaltung, Mittagstische und ähnliche Besorgungen und Aufgaben umfassen.

Die Zeitvorsorgenden leisten ihren unentgeltlichen Einsatz für eine anerkannte Organisation der Stiftung. Er wird geregelt durch Rechte und Pflichten betreffend u.a. Leistungen, Entschädigungen, Vertraulichkeit, Haftung, Versicherung in einer Vereinbarung. Später können die Zeitguthaben steuerfrei gegen Leistungen eingetauscht werden, und behalten ihren Wert dank städtischer Garantie. 2014 wurden etwa 7600 Stunden geleistet.

Das-KISS-Modell

Das KISS Modell:

Der 2011 gegründete Verein KISS Schweiz , will die Nachbarschaftshilfe mit Zeitgutschrift propagieren. Unter dem Motto KISS „Keep it small and simple“ will er schweizweit ein Modell verbreiten, das Menschen aller Generationen dazu animieren jene die in der der Not sind so zu unterstützen und zu begleiten, damit sie länger eigenständig leben können. Es werden vor allem Menschen in die 3. Lebensphase angesprochen, um jene der 4. Lebensphase zu begleiten und zu betreuen, jedoch ohne medizinische Pflegeleistungen zu erbringen. KISS will nicht Freiwilligenarbeit leisten oder ersetzen im Sinne der meisten in diesem Bereich aktiven Institutionen, sondern dort einspringen, wo die verschiedenen Formen von Nachbarschaftshilfe gefragt sind

Generell wird die Freiwilligenarbeit in einem Tandemverfahren ausgeführt, wo Gebender und Nehmender sich treffen und die Dienstleistung selber vereinbaren. Eine Fachperson bringt die Tandems zusammen, begleitet und berät sie. Die erworbenen Zeitgutschriften sind der Beleg für geleistete Stunden. Ein späterer Bezug ist nach Möglichkeit vorgesehen, es besteht aber keine Garantie.

Die operative Tätigkeit wird dezentral in lokalen oder regionalen Genossenschaften organisiert, die nach dem bottom-up-Prinzip aufgebaut werden. Mitglieder sind die Gebenden und Empfänger von Leistungen. Sie bilden eine Community wo sie sich wesentlich selbstbestimmend gegenseitig unterstützen und sich gemeinsam mit diversen Aktivitäten weiterentwickeln. Dabei sind sie von einer in einem Anstellungsverhältnis stehenden Fachperson begleitet und unterstützt. Die Genossenschaften operieren selbstständig, jedoch wird der Aufbau vor Ort durch den Verein KISS Schweiz unterstützt, der über hohe Beratungskompetenz und Erfahrung verfügt. Ebenso hat er ein gemeinsames EDV-System für die Verrechnung der Stunden entwickelt (Cyclos).

Zurzeit sind vier Genossenschaften mit jeweils etwa 100 bis 200 Mitgliedern operativ tätig (Obwalden, Cham, Luzern, Oberfreiamt), und sechs weitere sind in der deutschsprachigenen Schweiz im Aufbau.

Wie nachhaltig ist die 4. Vorsorgesäule?

Diese dargestellten Modelle laufen nun seit wenigen Jahren, und es ist verfrüht weittragende Schlüsse aus ihrer bisherigen Aktivität zu ziehen. Sie haben jedoch aufgezeigt, dass ein Interesse für Zeitaustauschsysteme vorliegt und dass sie in der Praxis realisierbar sind. Ob diese Modelle sich bewähren, wird sich längerfristig zeigen, es ist aber anzunehmen, dass sie gewisse Entwicklungen durchlaufen werden um längerfristig zu bestehen, und möglicherweise können auch weitere Modelle auftauchen.

Zurzeit  belasten folgende Aspekte die Entwicklung der 4. Säule:

  • Der Zeitaustausch setzt voraus, dass ein Gleichgewicht in der Zahl zwischen Gebenden und Nehmenden vorliegen sollte. Dies ist in der Entstehungsphase der Organisation nicht der Idealfall, und durch eine kontinuierliche Entwicklung können die Lücken weitgehend ausgeglichen werden.
  • Die Finanzierung der Strukturen und Führung der zuständigen Organisationen ist nur beschränkt sichergestellt, in St. Gallen befristet durch die Stadt, bei KISS mit Spenden und vornehmlich ungebundenes Sponsoring.
  • Der Begriff „Freiwilligenarbeit“ wird mancherorts unterschiedlich verstanden und angewendet, was zu Missverständnissen führen kann. Auch wenn man sich von Regeln wie z.B. jenen von „Benevol Schweiz“ leiten lässt, sind Schnittstellen zu bezahlten Leistungen unter gewissen Umständen manchmal unklar und müssten geklärt werden. Dazu herrscht offenbar die Meinung, dass die Freiwilligenarbeit heutzutage in unserer Gesellschaft weniger angesehen ist und praktiziert wird.
  • Auch müssen mit Behörden, insbesondere lokalen Steuerverwaltungen, die Arten und Kriterien der steuerfreien Freiwilligenarbeit festgelegt werden. Es kann nicht sein, dass unentgeltlich geleistete Stunden im Zeitaustausch vom Steueramt besteuert werden!

Solche und andere Überlegungen können die Entwicklung von Modellen in der 4. Vorsorgesäule hemmen, sie können diese aber nicht verhindern. Die 4. Säule kann jedoch je nach Region und Umfeld unterschiedlich gedeihen.

Doch der Nutzen dieses Systems ist offensichtlich: Gebende sowie Nehmende können damit ihre ideellen und materiellen Vorteile selbst erleben, und die Gesellschaft profitiert von den erbrachten Dienstleistungen. Es ist ein Beitrag für die Lebensqualität und wirkt vorteilhaft im Bereich der allgemeinen Pflegekosten. Deshalb: Wenn die 4. Vorsorgesäule einmal implementiert ist, kann sie längerfristig in der Gesellschaft bestehen.
Somit liefert die 4. Säule einen willkommenen Anteil für die Vorsorge, wenn sie auch nicht alle damit verbundenen Probleme lösen kann.

Bildnachweis: Tolos Delphi: Wikipedia, Grafik und Foto 3, Verein KISS Schweiz, www.kiss-zeit.ch

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